: Die Gründe der Müdigkeit
Die Theatergruppe Showcase Beat Le Mot hat Künstler:innen mit Long Covid eingeladen. Zusammen haben sie im HAU1 einen reizreduzierten, aber an Informationen reichen Abend aufgeführt
Von Tom Mustroph
Fast schon vergessene Szenen ereigneten sich im Hebbeltheater. Im Eingangsbereich wurden FFP2-Masken ausgegeben. Fast alle Besucher*innen setzten sie auf, die einen aus Sorge, die anderen aus solidarischen Motiven. Denn viele der Performer*innen bei „Raven mit Long Covid“ leiden daran, auch Veit Sprenger, der Mitbegründer der einladenden Gruppe Showcase Beat Le Mot. Über 60 Zuschriften gingen beim Open Call für das Projekt ein, erzählte Sprenger. „Auch jetzt erhalten wir noch Zuschriften“, sagte er sichtlich bewegt auf der Bühne.
Long Covid ist ein Phänomen mit zwei Gesichtern. Für die Mehrheitsgesellschaft stellt es vor allem eine lästige Erinnerung an eine dunkle Zeit dar, die man gern für überwunden hält. Für die Betroffenen und deren Angehörige und Freunde ändert Long Covid hingegen alles: Tagesablauf, Berufsleben, Beziehung. „Ich habe keinen Sex, mich legt Long Covid flach“, heißt es später im Blues des Singer Songwriter-Trios The Millenial Midlife Crisis.
Die etwa vierstündige Show mit mehr als zwei Dutzend Beteiligten ist ein lockeres Nummerprogramm in einem besonderen Bedachtsamkeitsrahmen. Erkrankte sollen nicht nur auf der Bühne agieren, sondern auch reizreduziert chillen können. Deshalb sind Sitzsäcke und Liegen verteilt. Das Vertikaltheater, das die einladende Showcase-Combo hoch über den Liegen an den Zügen der Hinterbühne inszeniert, kommt auch mit wenigen Scheinwerfern, einigen sacht in der Luft bewegten Objekten und einem über den Köpfen schwebenden Performer aus.
Zur Hauptattraktion wird der Bühnenarbeiter, der mit dem stoischen Gestus eines buddhistischen Mönches an der Seite mit Strippen die diversen in der Luft befindlichen Elemente hoch- und herunter fährt.
Das Essen, das im Obergeschoss verteilt wird, ist Histamin-frei. Long Covid ist oft mit Histamin-Intoleranzen verbunden. Das alles lernt der Nicht-Eingeweihte schnell. Die Eingeweihten, von denen viele da sind, kann man daran erkennen, wie routiniert sie mit Akronymen wie etwa ME/CFS umgehen. Das steht für „Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronische Fatigue Syndrom“ und bezeichnet die Erkrankung in der Fachsprache. Auch PEM – Post-Exertionelle Malaise – ist oft zu hören. PEM gilt als Leitsymptom von ME/CFS und beschreibt schnelle Erschöpfungszustände nach schon geringer körperlicher Anstrengung. EM-Rente (Erwerbsminderungsrente) ist ein weiterer Klassiker in diesem Kontext.
Wie sehr PEM – ohne EM-Rente – den Berufsalltag auch in den darstellenden Künsten massiv einschränkt, machte der Schauspieler Stephan Hellweg in einer szenischen Skizze deutlich. Er beschrieb die Leiden, die lange Anfahrtswege zum Drehort für ihn bedeuten. Später stellte er einen Filmdreh nach, in dem der Regisseur eine Szene mehrfach wiederholen ließ, weil er in der Großaufnahme nicht die müden Augen des Darstellers sehen wollte, sondern den entschlossenen und feurigen Blick des Soldaten, den Hellweg verkörpern sollte.
Über die Gründe der Müdigkeit schweigt man am Drehort lieber. Und dass man nicht Kraft und Ausdauer trainiert, liegt eben nicht an Faulheit, sondern daran, dass ME/CFS und Sport so etwas wie Cäsar und Brutus, Hamlet und dessen Stiefvater oder die Montagues und die Capulets (ohne die Generation Julia und Romeo) sind: klassische Antagonisten.
Genauso beschrieb die Musikerin Emmi ihr durch die Krankheit gewandeltes Verhältnis zum einst geliebten Kontrabass. „Der Bass gab Kontra“, sagte sie vom Rollstuhl aus, sichtbar unfähig, das schwere Instrument überhaupt noch bewegen zu können. Emmi brachte in dieser szenischen Miniatur (gespielt von Carolin Ott, Regie: Katharina Cromme) auch den Kernaspekt des Abends zur Sprache: Long Covid ist für die Mehrheitsgesellschaft so gut wie unsichtbar. Emmi imaginiert sich deshalb prompt als Superheldin mit der magischen Kraft zur Unsichtbarkeit.
Das große Verdienst von „Raven mit Long Covid“ ist es, die Aufmerksamkeit auf dieses vermeintlich unsichtbare Phänomen zu lenken. Ob das entschleunigte Spiel, wie mitunter suggeriert, zum Ausstieg aus dem allgemeinen neoliberalen Erschöpfungskarrussell geeignet ist, darf aber bezweifelt werden. Nicht wenige Zuschauende behielten die Kopfhörer auf, um dem real Performten noch die Tonspur anderer, bereits aufgezeichneter oder an anderen Orten eingesprochener Arbeiten hinzuzufügen und so zu einem dichteren Erlebnis für sich selbst zu gelangen.
HAU1, wieder am 4. und 5. Januar
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