: Fünf Personen durchtaumeln einen Text
René Polleschs Gedanken zum Theater erfahren in der posthumen Produktion „Der Schnittchenkauf“ an der Volksbühne eine so wundersame wie hochkomische Wiederbelebung. Die Inszenierung wirkt angemessen hilflos
Von Tom Mustroph
Ein Glück, dass der Kulturbetrieb noch Papier und Druckerschwärze hat und der Strom an den Speichergeräten durch die Kürzungsorgie des Kultursenators nicht komplett abgeschaltet ist. So nämlich konnte René Polleschs bereits 2011 verfertigte Gedankensammlung „Der Schnittchenkauf“ den viel zu frühen Tod des Autors nicht nur überleben, sondern an der Volksbühne sogar eine Theateraufführung auf dessen Grundlage entstehen. Bühnenbildner Leonard Neumann ließ dazu einen Bretterkasten, der stark an die Bauten seines ebenfalls zu früh verstorbenen Vaters Bert gemahnt, auf die Bühne zimmern. Ein paar Schriftzeichen an der Wand und die Riesentuschezeichnung einer Landschaft, die an Chinas Meister erinnert, sorgen für fernöstlichen Touch.
Das passt. Denn Bertolt Brecht, auf dessen „Messingkauf“-Text sich Polleschs „Schnittchenkauf“ bezieht, ließ parallel zur Arbeit daran seine lebenslange Auseinandersetzung mit China im Drama „Der gute Mensch von Sezuan“ kulminieren. Im „Messingkauf“ geht es um den ganzen Nachahmungszusammenhang. Titelgebend ist die Figur des Schrotthändlers, den laut Brecht bei der Bläserabteilung eines Orchesters vor allem der Messinggehalt der Instrumente interessiere. Im Grunde genommen ist der Messinghändler die vorzeitig erahnte Figur des aktuellen Kultursenators.
Polleschs direkte Replik auf Brecht eignet sich jetzt der unvergleichliche Franz Beil an. In lässigem Stolperton erzählt er, dass ihn ins Theater einst nur die an dem Abend versprochenen Schnittchen gezogen hätten. Die gab es dann aber nicht. Aus dem Sinnieren darüber, ob denn die anderen Zuschauer auch wegen der Schnittchen oder doch wegen des Theaterwerks gekommen seien, entwickelt sich ein schön mäandernder Gedankenstrom über das Verhältnis von Zuschauendem und Darstellendem, von Dargestelltem und Imaginiertem, von Welt und Spiel.
Die berühmte vierte Wand des tradierten Theaters taucht sinnigerweise als durchsichtige Plexiglaswand auf, an der die Finger der sich daran abarbeitenden Spieler*innen deutliche Schlieren hinterlassen. Martin Wuttke erläutert etwas später wortreich den Vorzug von Tratsch als etwas Flüssig-Diskursiven gegenüber der Festform Meinung. Kathrin Angerer betört als Jägerin mit abgeschabtem Plüschreh im Arm, während der seine Gemütszustände exzentrisch wechseln könnende Milan Peschel eine ganze Welt zwischen zwei (Theater-)Türen zu etablieren versucht.
Die Texte haben den klassischen Pollesch-Sound, in dem die Vergeblichkeit jedweder Illusion konstatiert, zugleich die Sehnsucht nach Berührung von Herz und Haut artikuliert und Letzteres gleich darauf als ebenfalls illusorisch markiert wird. Die fünf Spielenden, Rosa Lembeck ist die Fünfte, durchwandern mit Polleschworten auf den Lippen den Neumannschen Bretterbau, nehmen auch – verborgen vorm Zuschauerauge durch die Tuschelandschaft, aber eingefangen durch die Livekamera – an Biertischen Platz. Später rollern sie auf Mopeds und Fahrrädern durch die Szenerie.
Das alles wirkt angemessen hilflos. Denn wie könnte überhaupt in einem Gedankengebäude, in dem der zweite Satz den ersten hinterfragt und der dritte die vorherigen auflöst, ein fester Standpunkt erreicht werden? Daher wird das Halt- und Hilflose zum bestimmenden Element. Erkenntnis blitzt vor allem in den Reaktionen der vier anderen auf den jeweils Sprechenden auf: Etwa, wenn Peschel komisch erschüttert glotzt, Wuttke sich zum wissenden Medium entmaterialisiert, Angerer Halt am Reh sucht und Beil ein Steinpilz zu werden verspricht. „Der Schnittchenkauf“ ist eine Häppchen-Gala der Paradoxa. Nicht jedes schmeckt, aber ein gutes anderes folgt immer. Der Beifall tost dann auch. Postmortem hat Pollesch ein schönes Gedankenarrangement zum Sein und Schein im Jetzt hinterlassen.
Wieder am 22. 12., 4. und 25. 1.
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