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Begeisterung ohne Grenzen

Das Fußballjahr 2024 steckt voller Kuriositäten: die große Fifa-Klatsche, ein neuer deutscher Meister nach Ewigkeiten, Liebling Jürgen Klopp heuert als Head of Global Soccer beim verhassten Brausekonzern an und einiges mehr

Von Johannes Kopp und Andreas Rüttenauer

Saudi-Sause

Zum Jahresende war die größte Klatsche des Weltfußballs zu bestaunen. Es haben tatsächlich fast alle der 211 Verbandsrepäsentanten vor ihren Bildschirmen auch für die WM 2034 in Saudi-Arabien applaudiert. Präsident Gianni Infantino hatte auf der Fifa-Online-Konferenz seiner großen Herde aus einem Studio in Zürich zuvor erklärt, wie er sich das genau gedacht hatte, und siehe da, es klappte. Mit dem Zusammenführen ihrer Hände votierten die Fußballfunktionäre zudem für die Vergabe der WM 2030 an sechs Länder und drei Kontinente, ein Megakonstrukt, das Saudi-Arabien erst den Weg ebnete. Und sie klatschten bestimmt ebenso für die weltweite Abschaffung von Kriegen, Gewalt und Ausbeutung. All das ist ohne den Fußball sowieso nicht möglich. Auch Bernd Neuendorf, dem Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, leuchtete es ein, dass für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien eine Fußball-WM hilfreicher ist als moralische Fundamentalopposition. Hat denn niemand die Stimme erhoben? Nur die Regie in Zürich hätte online die Mikrofone freigeben können. Das war aber nicht vorgesehen. Der norwegische Verband musste eine Protestnote einreichen, die Fifa-Generalsekretär Mattias Grafström vorlas. Sie war so knapp formuliert, als ob sie Grafström aus reiner Sorge um das Zeitbudget eigenhändig gekürzt hätte.

Wunder Werkself

Konrad Adenauer hat es 14 Jahre lang getan. Bei Helmut Kohl und Angela Merkel waren es 16 Jahre. Und Erich Honecker war satte 18 Jahre lang am Ruder. So lange wäre der FC Bayern München bestimmt auch gerne durchgehend an der Regierung geblieben. Aber nach 11 Jahren war Schluss. Bayer Leverkusen stürzte die Münchner mit konstruktivem Angriffsfußball, holte Meisterschale und Pokal in die Unstadt am Chemiewerk. Nichts war mehr, wie man es in Fußballland gewohnt war. Und erst der Trainer! Als ganz Europa die Taktik mit dem ausgeklügelten Flügelspiel bewunderte, die er der Mannschaft verordnet hatte, hatten nicht wenige damit gerechnet, dass Xabi Alonso, der Fußballweltbürger aus Spanien, zu einem der europäischen Großklubs wechselt. Doch er verkündete prompt, erst mal in Leverkusen bleiben zu wollen. In Leverkusen! Nein, es ist wirklich schier unfassbar, was in diesem Fußballjahr geschehen ist. Ein Wunder? Kann jetzt wieder jeder Klub, der halbwegs gut arbeitet, Meister werden? Nicht wirklich. Leverkusen ist nicht unbedingt der Klub, in dessen Bettwäsche Fußballromantiker schlafen. Die Werkself ist schließlich alles andere als ein Betriebssportverein, sie ist eine Abteilung des Mutterkonzerns und so ein Stück weit befreit vom echten Wettbewerb auf dem Markt. Ein Wunder war die Meisterschaft also nicht. Schön war’s trotzdem.

Finger weg vom FC Bayern

Die vermeintlich nur zwölftbeste Lösung kann die beste sein. Das ist mit Sicherheit die verblüffendste Lektion, die das Jahr 2024 dem ehrpusseligen FC Bayern München erteilte. Denn eigentlich kommt für den Rekordmeister immer nur das infrage, was man für das Beste vom Besten hält. Gefragt haben die Kluboberen danach lange vergeblich. Bekommen haben sie dafür, was man beim FC Bayern so gar nicht haben will: Mitleid. Eine Absage folgte der nächsten bei der Trainersuche. Xabi Alonso, Ralf Rangnick, Roberto De Zerbi, Roger Schmidt und Oliver Glasner waren nicht zu haben. Selbst Julian Nagelsmann und Thomas Tuchel, die der FC Bayern in der Praxis schon für untauglich befunden hatte, wurden wieder zu heißen Kandidaten, ehe man sich notgedrungen irgendwann für Vincent Kompany vom Premier-League-Absteiger FC Burnley entschied. Weil er sich noch keine Meriten als Trainer verdient hatte, hob man bei der Verpflichtung umso mehr seine große Spielerkarriere hervor. Weil der FC Bayern so ideenlos war, konnten die Verantwortlichen schlecht behaupten, die besondere Spielidee von Kompany sei ausschlaggebend gewesen. Doch mit dieser wurde er zum Glücksgriff für seinen neuen Klub. Mit seinem mutigen flexiblen Positionsspiel können sich die Spieler bestens identifizieren. Die Auftritte des Teams haben wieder einen positiven Wiedererkennungswert. Und was für neutrale Beobachter besonders angenehm ist: Kompany ist ein Sympathikus. Er nimmt jeden und jede ernst. Ihm fehlt der Dünkel, den seine Vorgänger häufig vor sich hertrugen. Es ist wirklich erstaunlich, was alles passieren kann, wenn der FC Bayern nicht bekommt, was er möchte.

Flüchtige Heim-EM

Am Ende seiner Reise durch die Euro 2024 hielt Julian Nagelsmann noch eine Rede zur Lage der Nation. „Wir haben es geschafft, die Menschen zu einen“, sagte er nach dem Viertelfinal-Aus der deutschen Edelkicker gegen den späteren Turniersieger Spanien. Drei ostdeutsche Landtagswahlen später weiß das Land, dass Nagelsmann vielleicht doch nicht ganz recht hatte. Aber vielleicht stimmte ja seine Analyse zumindest für einen kleinen Moment. „United by Football“, lautete das Motto der EM und als sie noch lief, wirkte das Land ja tatsächlich so offen und freundlich wie lange nicht. Man freute sich über saufende Schotten, schunkelnde Niederländer und sogar über Rumänen, die ja sonst eher nicht so hoch angesehen sind. Nur über die türkischen Fans galt es sich aufzuregen. Der faschistische Wolfsgruß wurde entschieden zu häufig gezeigt. Aber was wäre ein großes Fußballturnier ohne echtes Politikum? Eine Schiedsrichterentscheidung, über die sich das ganze Land aufregte, gab es auch. Wieso pfiff die Pfeife nicht, als dieser Spanier mit den vielen Haaren kurz vor Schluss Jamal Musialas Ball mit dem Arm aufhielt? Hätte es Elfer gegeben, wären die Deutschen, die in diesem Spiel ihren stärksten Auftritt seit zehn Jahren hingelegt hatten, am Ende gar Turniersieger geworden, man würde vielleicht heute noch über die EM sprechen. Aber so?

Energische Liebe

Was haben sie geweint in Liverpool, als Jürgen Klopp im März verkündete, dass er nicht länger Trainer sein will beim legendären Premier-League-Klub, den er zur Meisterschaft und zum Sieg in der Champions League geführt hatte. Auch in Deutschland ist kräftig mitgeheult worden über die emotionalen Abschiedsworte, mit denen Deutschlands immer strahlender Lieblingsfußballmensch zum Ausdruck brachte, dass ihm die Energie auszugehen droht. Dass ihm ausgerechnet ein Energy Drink aus dem Loch heraushelfen würde, damit dürften auch die nicht gerechnet haben, die aufzählen konnten, an welche Konzerne Klopp sein Gesicht zu Werbezwecken schon verkauft hat. Head of Global Soccer bei Red Bull ist der weißgebissige Trainer ab Januar. Der dämliche Titel ist für viele Fans des traditionellen Kicksports dabei gewiss das geringste Problem. In Deutschland ist das Konstrukt, das sich Rasenballsport Leipzig nennt, weil es die Regularien nicht erlauben, einen Klub nach einer Firma zu benennen, nicht nur bei Fußballromantikern besonders verhasst. Während der einzige Zweck der Aktiengesellschaften von Bayern München und Borussia Dortmund darin besteht, erfolgreiche Fußballteams zu betreiben, ist RB Leipzig nicht mehr als ein Marketinginstrument zur Ankurbelung des Limonadenverkaufs von Red Bull. Was Jürgen Klopp selbst dazu sagt? „Nichts könnte mich mehr begeistern.“ Noch Fragen?

Und tschüss …

Keine Kopfballkunst mehr von Alexandra Popp im Nationalteam. Horst Hrubesch, der alte weise Menschenfreund, ebenfalls mit Kopfballkunsthintergrund, will auch nicht mehr für Trainerjobs gefragt werden. Keine Gemeinschaftskunde mehr auf hochalemannisch mit Christian Streich, keine millimetergenauen Diagonalpässe mehr von Tempo- und Rhythmusgeber Toni Kroos. Der deutsche Fußball musste sich in diesem Jahr von reichlich Liebgewonnenem verabschieden. Mit dem Popp-Fußball (Flanke, Kopfball, Tor) hatten die deutschen Fußballerinnen über Jahre etliche Defizite im Nationalteam übertünchen können. Und die Medien hatten ihre erste große weibliche Lichtgestalt auf dem Fußballplatz, die nachwachsenden Generationen als Vorbild diente. Wie stark Gelassenheit und eine angenehme Atmosphäre untereinander gute Leistungen befördern, konnten sich junge Ehrgeizlinge auf der Trainerbank von Horst Hrubesch abschauen. Den Drang von Streich, klare politische Haltung zu zeigen, die weit über die in dieser Branche üblichen wolkigen Bekenntnisse gegen Rassismus hinausging, finden indes nicht alle toll. Insbesondere AfD-Wähler sollen das kritisch sehen. Sie stören sich an dem Solitär in der Fußballbranche. Einigkeit herrscht dagegen mittlerweile darüber, welch fantastischen Weltklassefußballer Deutschland mit Toni Kroos verloren hat, wenn man mal sicherheitshalber von einzelnen Ehrenamtlern beim FC Bayern und ihrer verqueren Perspektive absieht.

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