: Wahl ohne Wahl
Die Entscheidung im Herbst ist historisch, gerade weil es nichts zu entscheiden gibt. SPD und CDU wollen das Gleiche. Diese Fantasielosigkeit könnte langfristig eine Chance sein
Das hat es noch nie gegeben: Ein Kanzler stellt die Vertrauensfrage – aber es steht keine Richtungsentscheidung an. CDU und SPD unterscheiden sich kaum. Es sind zwei Volkspartei-Klone. Das war früher anders. Willy Brandt wollte 1972 die Ostpolitik mit einer Vertrauensfrage durchsetzen; 1982 strebte die FDP eine andere Wirtschaftspolitik an, und Helmut Schmidt musste sein Amt zur Disposition stellen. Diesmal hingegen wird der Lagerwahlkampf nur mit Phrasen inszeniert. Die SPD geriert sich als das „kleinere Übel“ und der Merksatz der Angela Merkel lautet: „Jeder Tag, an dem Rot-Grün nicht regiert, ist ein guter Tag.“
Woher nimmt die CDU-Chefin diese Selbstgewissheit? Die Union jubelt über die angekündigten Neuwahlen – hat aber bisher überhaupt kein erkennbares Programm. Und was schon bekannt ist, könnte fast immer auch von der SPD stammen – Stichwort: Unternehmenssteuerreform. Wie will die CDU da einen Lagerwahlkampf führen?
Die Wähler spüren die Ratlosigkeit. Noch können sie ihre Unzufriedenheit nicht auf den Begriff bringen, weil es scheint, als würde eine Alternative zur Wahl stehen. Diese Illusion lässt sich nicht mehr über die nächste Wahl retten. Diese Enttäuschung wird den Septembertermin zu einem entscheidenden Ereignis in der bundesdeutschen Geschichte machen. Wir haben uns angewöhnt, Richtungswahlen als Zäsuren zu sehen. Diesmal ist es umgekehrt: Die nächste Abstimmung wird zur Zäsur, gerade weil sie die Richtungsentscheidung vermissen lässt. Es ist eine Wahl ohne Wahl.
Die politische Krise, die sich in dieser Leere ausdrückt, ist kein Zufallsprodukt. Die Volksparteien wollten es so. Schröders Slogan von der „Neuen Mitte“, später nur noch „Mitte“, bringt es auf den Punkt: Die SPD erhob den Alleinvertretungsanspruch für die ganze Gesellschaft; sie wollte alle Wähler sammeln, während für die anderen Parteien nur die Randgruppen bleiben sollten. Diese Strategie der Maßlosigkeit war nicht originell; von der CDU wurde sie schon immer verfolgt. Lange Zeit war die Union gar die einzige Partei der Mitte, bis auch die SPD erkannte, dass Brandts „Mehrheit links der Mitte“ nicht mehr existiert. Seither ist Deutschlands Mitte wegen Überfüllung geschlossen: Im Gedränge sind SPD und CDU kaum zu unterscheiden.
Beispiel Hartz IV: SPD wie CDU wollten bei den Langzeitarbeitslosen kürzen. Sie waren sich derart einig, dass die Union sich schon sehr mühen musste, um als Opposition erkennbar zu bleiben. Sie bestand darauf, dass nicht nur die Bundesagentur, sondern auch die Kommunen die langzeitarbeitslosen „Kunden“ betreuen dürfen. Das führt bis heute zum Chaos, worunter vor allem die Betroffenen leiden. Besonders aber fällt auf, wie seltsam und doch zukunftsweisend es ist, dass sich die Opposition nur noch durch solcherlei Vorschriften profilieren konnte, nicht aber programmatisch.
Beispiel Sicherheit: Nicht umsonst ist Otto Schily noch immer SPD-Innenminister. Bürgerrechte sind kein Thema, das Motto heißt Abwehr – ob von Migranten oder Terroristen. Damit ist sogar die CSU zufrieden.
Beispiel Gesundheit: Hier scheinen sich zwar unversöhnliche Lager zu bekämpfen – die CDU-Kopfpauschale gegen die SPD-Bürgerversicherung –, doch näher hingesehen verflüchtigen sich die Unterschiede. So hat die SPD sich bisher Zeit gelassen, ihr Konzept umzusetzen. Die CDU wiederum hat schon so viele soziale Nachbesserungen angekündigt, dass ihre Kopfpauschale nun fast wie eine Bürgerversicherung wirkt – nur, wie schon bei Hartz IV, deutlich bürokratischer.
Auch nach der zweiten Schröder’schen Legislaturperiode zeigt sich, was schon nach dem ersten Durchgang auffiel: Was Rot-Grün von der Union unterscheidet, sind die grünen Konzepte. Ob Atomausstieg, erneuerbare Energien, Homo-Ehe oder doppelte Staatsbürgerschaft – diese grünen Spuren zeigen, dass es sich politisch auszahlen kann, nicht allzu einfallslos nur auf die „Mitte“ zu zielen.
Doch so strukturell ähnlich sich die beiden Volksparteien sind – sie haben noch immer ein unterschiedliches Image bei den Wählern. Daraus erwachsen paradoxe Zwänge. Die SPD, als sozial bekannt, muss den Unternehmen beweisen, dass sie den „Standort Deutschland“ fördert, indem sie die Opfer von den Arbeitslosen fordert. Die mittelstandsfreundliche Union wiederum muss ihren Wählern zeigen, dass sie auch die Konzerne belastet. Es könnte also sein, dass sich die Börsenzocker noch wundern, die auf steigende Gewinne unter einer CDU-Regierung spekulieren. Nicht unwahrscheinlich, dass die Union die Subventionen radikaler kürzt als die SPD. So war es Rüttgers einzige markante Aussage im NRW-Wahlkampf, dass die Steinkohle nicht mehr gefördert werden soll.
Es sind diese kleinen Unterschiede, die den Wählern noch suggerieren, sie hätten eine Wahl. Und tatsächlich gibt es Lager. Der letzte wirkliche Streit spielt sich jedoch in den Parteien ab. In der SPD ist dies unübersehbar, wo die Restlinken revoltieren. Aber auch die CDU hat ihre stillen Abweichler. In Parteien wie im Land missachtet eine breite Mehrheit eine chancenlose Minderheit. Und die Mehrheit weiß, was sie will: Sicherheit im Wandel, wie die SPD einst selbst als Slogan formulierte.
Angesichts dieser mentalen Mehrheitsverhältnisse wäre die große Koalition nur konsequent, falls sie sich wahlarithmetisch ergeben sollte. Was zu erwarten wäre? Inhaltlich wohl nicht viel. Beide Volksparteien würden weiter ihre Rhetorik vom „Gürtel enger schnallen“ bemühen und ansonsten auf den Aufschwung hoffen. Das tun beide auch jetzt schon. Faktisch existiert in Deutschland längst eine große Koalition, da Rot-Grün im Bundestag und die Union im Bundesrat gemeinsam entscheiden müssen. Bisher hat das die Fantasie nicht angeregt.
Allerdings könnte es zum ersten bedeutenden Verfassungsumbau seit den Notstandsgesetzen kommen – auch damals, 1968, regierte eine große Koalition. Diesmal gilt als Ziel, von SPD-Chef Müntefering und seinem CSU-Kollegen Stoiber schon benannt, die Länder- und die Bundeskompetenzen zu entflechten. Das ist löblich: Endlich wüssten die Wähler, wer verantwortlich ist.
Doch der Aufwand für diese formale Reform ist unglaublich: Ein Kanzler muss erst die Vertrauensfrage stellen, ein Bundespräsident eingeschaltet und eine Wahl vorgezogen werden – nur damit die Volksparteien endlich eine Verfassungsänderung beschließen, über die sie in der Föderalismuskommission schon fast einig waren.
Und das ist schon der beste Fall. Sollte die Mehrheit für Union und Liberale reichen, kommt in den nächsten Jahren nur das große „Weiter so!“: Hartz V, Hartz VI, Hartz VII … In jedem Fall wird die Enttäuschung der Bürger enorm steigen, dass die Alternative fehlt.
Erst wenn dadurch die „Mitte“ zerfällt, können neue Perspektiven entstehen. Die kommende Wahl ohne Wahl dürfte die letzte ihrer Art sein. Das macht sie schon jetzt historisch.
DANIEL HAUFLERULRIKE HERRMANN