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Die unsterbliche Ehefrau

Ein Berliner Kriminalfall: Warum Bruno Schreiber vor 100 Jahren seine Frau im Streit erschlug und sie dann mit Blumen schmückte

Kriminal­kommissar Trettin auf einem alten Foto, es ist der Mann neben dem Schupo (in der Mitte ist der Berliner Polizei­präsident Magnus von Levetzow zu sehen, der von 1933–35 im Amt war) Foto: ­Sammlung Bettina Müller

Von Bettina Müller

Der Jahresbericht 1915 des Berliner Lessing-Gymnasiums enthält nicht nur die üblichen Namensverzeichnisse der Abiturienten, sondern listet auch die Ehemaligen auf, die sich für den Kriegsdienst gemeldet haben. Darunter der Philosophiestudent Bruno Schreiber und dessen Freund, der Theologiestudent Otto Trettin. Sie sind Freunde, die fünf Jahre zuvor zusammen ihr Abitur gemacht haben, aber aus unterschiedlichen Milieus stammen.

Schreiber ist 1891 in Hermsdorf als unehelicher Sohn der Minna Rosenfeld zur Welt gekommen – seine Mutter hat den Kindsvater, den Redakteur Willy Schreiber, erst ein Jahr später geheiratet. Trettin wiederum ist der Sohn eines Lehrers aus Pommern. Er studiert mit Stipendium.

Während Schreiber im Ersten Weltkrieg schon bald wieder von der Front nach Hause zurückkehren muss, weil er als Gefreiter im Luftschiffer-Bataillon aus einem brennenden Fesselballon gesprungen und mit dem Kopf auf dem steinigen Boden aufgeschlagen ist, verliert Trettin als Gefreiter im Gardes du Corps-Regiment einen Arm. Beide überleben den Krieg. Danach bricht Trettin sein Studium aus unbekannten Gründen ab und tritt in den Dienst der Berliner Kriminalpolizei ein.

Währenddessen genießt Schreiber sein Studentenleben und ist dabei dem Alkohol nicht ganz abgeneigt. Das flotte Leben endet, als seine Freundin Martha, die Tochter eines Schlächtermeisters, von ihm schwanger wird. Das Paar heiratet.

Während Kriminalkommissar Trettin in der Folge vor allem in der Raubmordabteilung Karriere macht, kommt Bruno Schreiber beruflich nicht vorwärts, trotz abgeschlossenen Studiums und Doktortitels. Seine Ehe ist zunächst glücklich. Theaterbesuche, Reisen an die See, Besuch von Boxkämpfen und Regatten: Das Ehepaar erlebt schöne Zeiten. Doch der dringende Wunsch Schreibers nach einem männlichen Erben belastet zunehmend die Beziehung, vor allem als der 1916 geborene Sohn Günther kurze Zeit später stirbt und Martha auch noch zwei Fehlgeburten hat. Der von Bruno Schreiber ersehnte männliche Erbe rückt in immer weitere Ferne, während seine Ehefrau gar kein Kind mehr möchte.

Beruflich hängt Bruno Schreiber – so seine Sichtweise – beim Tegeler Anzeiger in Hermsdorf fest, und das als Studienreferendar, was in seinen Augen wohl eine Schmach ist. Schreiber versteht nicht, dass er immer noch mehr hat als andere Menschen, die in diesen Zeiten verzweifelt eine Arbeit suchen. Ständige Konflikte sind das Resultat, als Schreiber immer erratischer wird und auch immer mehr trinkt.

Der 4. Dezember 1924 wird zum Auslöser einer Katastrophe. An diesem Tag kündigt Schreiber seinen Redakteursjob. Einfach so, weil er Angst hat, in der Provinz zu versauern – gefährliche Eitelkeit.

Natürlich macht Martha ihm Vorwürfe, seine Stelle zu leichtfertig aufgegeben zu haben. Als sie ihm dazu noch eröffnet, dass sie unter diesen Umständen keinesfalls noch ein Kind bekommen möchte, dann sogar andeutet, es notfalls abtreiben zu wollen, sieht Schreiber rot und greift zu einem Hammer, der in Reichweite liegt. Rasend vor Wut schlägt er damit auf seine Frau ein. Nicht ein Mal, nicht zwei Mal, sondern mindestens drei, vielleicht auch vier Mal. Und da liegt Martha, mit der er auch so schöne Zeiten erlebt hat, blutüberströmt und rührt sich nicht mehr.

Gelbe Strohblumen

Große Reue überkommt den Täter und in der Verzweiflung über seine Tat eine merkwürdige, weil illusorische Fürsorge. Er wickelt die sterbende Frau in Decken ein und flößt ihr Milch ein, um ihre Lebensgeister zu wecken. Danach legt er sie ins Bett. Tagelang hält er neben ihr eine Totenwache ab, bevor er sie auf dem Dachboden versteckt und sie dann mit gelben Strohblumen schmückt. Ironie des Schicksals, denn diese Blumen heißen auch „Immortellen“ – ein Wort, dessen Ursprung französisch ist und „Unsterbliche“ bedeutet. An Heiligabend meldet Schreiber seine Frau bei der Polizei als vermisst.

Drei Monate später fehlt von Martha immer noch jede Spur. Am 3. März 1925 steht auf einmal Bruno Schreibers Mutter vor der Tür ihres Sohnes in der Koloniestraße. Sie will nun doch noch einmal nach Hinweisen fahnden. Die Suche führt sie schließlich auch auf den Dachboden des Hauses, wo sie alles gründlich durchsucht und schließlich in einer Ecke in einem Verschlag – wohin sich an trüben Wintertagen so gut wie kein Licht verirrt – ein sehr großes Paket findet.

Jemand hat den Inhalt mit viel Zeitungspapier, Segelleinen, Badelaken und Tüchern eingewickelt. Es ist ein Paket des Grauens, denn darin findet die Frau ihre Schwiegertochter Martha. Die Leiche ist zum größten Teil schon mumifiziert. Besonders sorgsam hat jemand den Kopf mit Wolltüchern eingepackt. Doch was ist das? Jemand hat die Tote tatsächlich mit Strohblumen geschmückt. Marthas Lieblingsblumen! Entsetzt weicht sie zurück und eilt davon, um die Polizei zu alarmieren.

Die rückt auch schnell an und will den einzigen Tatverdächtigen, Bruno Schreiber, zur Rede stellen. Doch das gestaltet sich als schwierig, weil er sich in der Zwischenzeit im Bad eingeschlossen hat und droht, sich umzubringen. Es dauert lange, bis Kriminalkommissar Otto Trettin ihn davon überzeugen kann, die Türe zu öffnen. Die Handschellen schließen sich um Schreibers Handgelenke und er wird in Untersuchungshaft gebracht. Bei der Durchsuchung der Wohnung findet die Polizei in der Küche schließlich auch die Tatwaffe.

Es dauert nicht lange und der Mann bricht im Verhörraum des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz zusammen und gesteht die Tat. Die Obduktion hat derweil ergeben, dass der Tod durch Zertrümmerung der Schädeldecke eingetreten ist, durch drei oder vier wuchtige Schläge.

Im Verhörraum wird es still, als Trettin und seine Kollegen Schreiber immer weiterreden lassen, der mehrmals behauptet, dass er in Notwehr gehandelt habe, weil seine Frau während eines Streits eine Waffe auf ihn gerichtet habe. „Gattenmord im Norden“, tönt es schon bald überall in Berlin, als sich die Zeitungen förmlich vor Sensationsmeldungen überschlagen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nichts Weiteres über den Fall und vor allem über das Tatmotiv und die Hintergründe bekannt ist. Ganz besonders schnell hat sich nämlich das pikante Detail herumgesprochen, dass Kommissar Otto Trettin seinen besten Freund Bruno Schreiber hatte verhaften müssen. Was für eine peinliche Angelegenheit für die Berliner Kriminalpolizei.

Am 19. Oktober 1925 beginnt die Verhandlung vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts II. Die Anklage lautet auf Totschlag, und das vorsätzlich, aber ohne Überlegung. Schreiber bleibt auch vor Gericht bei seiner Aussage, dass er in Notwehr gehandelt habe.

Der Mann sah auf den ersten Blick gar nicht aus wie ein eiskalter Mörder, berichtete der Berliner Gerichtsreporter „Sling“ (Paul Schlesinger) damals: Demnach saß da nur „ein kleiner, zierlicher Mann mit klugen Augen“ auf der Anklagebank. Der zudem wie ein „soignierter Intellektueller“ wirkte. Doch dieser „soignierte“ (gepflegt, seriös – Anm. d. Red.) Mann hatte seine Ehefrau brutal erschlagen, die laut Schreiber ein reizbares und zanksüchtiges „Mannweib“ gewesen war. Und zwar mit mehreren Hammerschlägen. Dabei hätte ein einziger dieser kraftvollen Schläge gereicht, um ihren Tod herbeizuführen. Fassungslos werden die Zuschauer im Gerichtssaal der Geschichte dieses Ehedramas gelauscht haben.

Kommissar Otto Trettin musste seinen besten Freund Bruno Schreiber verhaften

Es war eine komplizierte Gemengelage, dieser merkwürdige Fall des Dr. Bruno Schreiber. Während des Prozesses kommt schließlich eine Episode aus Schreibers Vergangenheit zur Sprache, die beweist, dass der Mann schon vor dem Ersten Weltkrieg große Probleme damit hatte, seine Wut im Zaum zu halten, und sich in der Folge völlig unverhältnismäßig verhielt. Schreiber hatte nämlich in der Nacht zum 27. Dezember 1910 in einem Abteil des Vorortzuges der Bahnstrecke Oranienburg–Berlin aus unbekannten Gründen mit einem anderen Fahrgast Streit bekommen.

Jemand hatte schließlich die Notbremse gezogen und am nächsten Bahnhof hatte man die Personalien der Streithähne feststellen wollen. Doch Schreiber hatte sich massiv gewehrt und sich aufgeführt wie ein Berserker und sich geweigert, das Abteil zu verlassen, die Beamten beschimpft und einem der Männer unvermittelt ein Bein gestellt, sodass er gestürzt war. Wegen dieses Vergehens war der Student Schreiber schließlich von einem Berliner Schöffengericht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und öffentlicher Beleidigung zu einer dreitägigen Karzerhaft verurteilt worden.

Diese Episode aus Schreibers Leben deutete eher auf einen Affekttäter hin, der den Mord an seiner Ehefrau keinesfalls geplant hatte. In Kombination mit der kriegsbedingten hirnorganischen Verletzung war das nicht ganz ungefährlich. Das Schwurgericht verurteilte Bruno Schreiber schließlich wegen Totschlags an seiner Frau zu dreieinhalb Jahren Gefängnis unter Zubilligung mildernder Umstände.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zog er nach Düsseldorf, wo er eine Stelle als Redakteur fand. Er heiratete erneut und am 4. September 1936 erfüllte sich sein sehnlichster Wunsch: Sein Sohn Peter wurde geboren.

Zu einem unbekannten Zeitpunkt ist die Familie Schreiber nach Gommern im heutigen Sachsen-Anhalt gezogen. Dort ist der Mann, der seine tote Ehefrau mit Blumen schmückte, am 3. Januar 1971 gestorben.

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