: Vertreiben und besetzen
Israels Vorgehen in Nordgaza
von Thomas Vescovi
Schon nach wenigen Stunden war klar, dass der Tod von Hamas-Chef Jahia Sinwar am 16. Oktober im Süden des Gazastreifens nicht zu einem schnelleren Kriegsende führen wird. „Das bedeutet nicht das Ende des Kriegs in Gaza, aber den Anfang vom Ende“, teilte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit.
Damit machte er erneut deutlich, dass er die Befreiung der israelischen Geiseln lieber mit Gewalt als auf dem Verhandlungsweg erreichen will. Für die Gegenseite bekräftigte Khalil Al-Hayya, Mitglied des Politbüros der Hamas und deren Verhandlungsführer, dass ohne Waffenstillstand inklusive Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und der Entlassung hunderter Palästinenser aus israelischen Gefängnissen eine Freilassung der Geiseln nicht infrage komme.
Für beide Seiten geht es ums politische Überleben. Die Hamas kann keine faulen Kompromisse eingehen; dafür ist der Preis zu hoch, den die Bevölkerung im Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 zu zahlen hat. Netanjahu wandelt seinerseits bei dem Versuch, die Regierungskoalition mit den Rechtsextremen zusammenzuhalten, auf einem schmalen Grat. Seine Umfragewerte sind wackelig, und er müsste im Fall von Neuwahlen nicht nur mit dem Machtverlust, sondern auch mit einer Verurteilung wegen Korruption rechnen.
Die Strategie der israelischen Regierung lässt jedenfalls keine Hoffnung auf eine Einigung aufkommen. Sie will weder eine internationale Friedenstruppe im Gazastreifen noch eine Rückkehr der palästinensischen Autonomiebehörde an die Macht. Stattdessen plädiert sie dafür, dass zumindest ein Teil ihrer Armee im Küstenstreifen bleibt und die Kontrolle über sämtliche Grenzübergänge behält, inklusive Rafah, dem Übergang nach Ägypten.
Nach dem Bau von Militärstützpunkten und neuen Straßen – wie etwa dem Netzarim-Korridor, der den Gazastreifen in zwei Teile teilt – soll die Armee mindestens 26 Prozent der palästinensischen Enklave in ihren Besitz gebracht haben.[1]Diese neuen Strukturen ermöglichen es Israel nicht nur, alle Bewegungen zwischen dem Nord- und dem Südteil zu kontrollieren; sie schaffen auch schon die Voraussetzungen für die zukünftige Verwaltung des Gebiets.
Dass das israelische Militär sich im Gazastreifen festsetzt, erleichtert auf lange Sicht vor allem die Wiederaufnahme des Siedlungsbaus. Seit mehreren Monaten wird in Israel auf Veranstaltungen immer häufiger darauf gedrängt, neue Siedlungen vor allem im Norden des Gazastreifens zu errichten, sobald dieser „gesäubert“ sei. Die jüngste Veranstaltung dieser Art, an der auch mehrere prominente Mitglieder von Netanjahus Partei Likud teilnahmen, fand am 21. Oktober statt. Der Druck durch die Siedlerbewegung nimmt offenbar in dem Maße zu, in dem die Vertreibung auch der letzten Bewohner des nördlichen Gazastreifens organisiert wird. Als Planungsgrundlage dient das Programm „Order and Clean-up“, das mitunter auch „Plan der Generäle“ oder – nach dem General, der ihn federführend entworfen hat – „Eiland-Plan“ genannt wird.
Ob der Generalstab diesen Plan in die Praxis umsetzt, ist zwar ungewiss. Doch dank der Recherchen des israelischen Onlinemediums +972ist schon einiges ans Licht gekommen.[2]Es geht darum, der Hamas eine „totale Niederlage“ beizubringen und anschließend einen „Entradikalisierungsprozess“ einzuleiten. Der Aussiedlung von rund 300 000 Palästinensern, die noch nördlich des Netzarim-Korridors leben, soll eine komplette Abriegelung des Gebiets folgen.
Ein entsprechender Evakuierungsbefehl wurde am 6. Oktober verbreitet. Im zweiten Schritt sollen verbleibende Kämpfer in „geschlossenen militärischen Zonen“ eingeschlossen und gezwungen werden, sich zu ergeben oder zu verhungern – auf die Gefahr hin, dass auch das Schicksal der in diesem Gebiet festgehaltenen Geiseln damit besiegelt wird. Vor Ort zu beobachten ist diese Strategie schon jetzt im Lager Dschabalia nördlich von Gaza-Stadt, das seit dem 12. Oktober komplett abgeriegelt ist.[3]
Parallel läuft die Übergabe der Verwaltungsbefugnisse im Westjordanland von der Besatzungsmacht an den Finanzminister und Siedlervertreter Bezalel Smotrich weiter. Dieser Prozess läuft auf eine De-facto-Annexion hinaus. Am 3. Juli billigte die Regierung mit 13 Quadratkilometern Land im Jordantal die größte Beschlagnahmung im besetzten Westjordanland seit 1993 (siehe den nebenstehenden Kasten).
Seit dem 7. Oktober 2023 wurden hier mehr als 700 Palästinenser getötet, die meisten bei Vorstößen der israelischen Armee zur „Säuberung“ von Widerstandsnestern. Für Benjamin Netanjahu ist die Ausweitung der Siedlungspolitik und die Verschärfung der Repression ein Mittel, um seine Koalition zu festigen. Zugleich hat die Eliminierung der Anführer von Hamas und Hisbollah seine Wählerschaft begeistert – und nicht nur die. Nach den jüngsten Umfragen könnte Netanjahus Likud bei Neuwahlen wieder stärkste Kraft werden.
Sinwars Tod ändert nichts
Die Opposition versucht weiter mit Protestkundgebungen Druck auf die Regierung auszuüben. Nachdem Benny Gantz und Gadi Eizenkot aus dem Kriegskabinett zurückgetreten waren, löste Netanjahu das Gremium am 17. Oktober auf. Die beiden Ex-Generäle werfen dem Premier vor, er habe keinen Plan für die Zeit nach dem Krieg und blockiere mögliche Fortschritte bei den Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln. Immer wieder habe Netanjahu die Gespräche im entscheidenden Moment behindert und dem Druck seiner rechtsextremen Verbündeten nachgegeben, die damit drohen, im Falle eines Waffenstillstands die Regierungskoalition platzen zu lassen.
Doch selbst wenn die faschistoiden Fraktionen, die mehrere Schlüsselressorts kontrollieren, das Feld räumen würden, wäre dies nicht das Ende des Apartheidregimes, das den Palästinensern in den besetzten Gebieten aufgezwungen wird. Neben dem Nationalisten Gantz steht auch Jair Lapid nach wie vor für eine liberal-zionistische, laizistische Opposition, die unter Berufung auf das „biblische Land“ die Siedlungspolitik rechtfertigt. In einer Kolumne in der Tageszeitung Haaretz dachte Lapid darüber nach, den Palästinensern eine Form von Souveränität zu gewähren unter der Voraussetzung, dass sie „uns beweisen, dass sie „zahm wie die Schweizer, friedfertig wie die Niederländer und ruhig wie die Australier sind“[4]– sprich: wenn sie ihre Entrechtung ohne Gegenwehr hinnehmen.
Dem Druck nicht nachgeben und Zeit gewinnen – diese Strategie Netanjahus trägt eindeutig Früchte. Für den Fall, dass Donald Trump die US-Wahl gewinnt, hofft der israelische Premier auf eine Neuauflage der Allianz, die es ihm einst ermöglicht hatte, die Palästinafrage von der diplomatischen Agenda zu streichen und seine Pläne voranzutreiben – seinerzeit verdeutlicht durch den Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem.
Dem entgegen steht allerdings die wachsende internationale Solidarität mit den Palästinensern. Die UN-Generalversammlung stimmte in den vergangenen Monaten mit großer Mehrheit für zwei wichtige Resolutionen: In einer ersten sprach sie sich für eine UN-Vollmitgliedschaft des Palästinenserstaats aus, in der zweiten fordert sie ein Ende der Besatzung der palästinensischen Gebiete innerhalb von zwölf Monaten.
Wenig hilfreich sind dabei allerdings die Meinungsverschiedenheiten zwischen den wichtigsten palästinensischen Fraktionen, wobei diese nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 bestehen. Die Gespräche zwischen Fatah und Hamas, die in den vergangenen Monaten in Moskau und Peking stattfanden, haben bislang offenbar nicht die erhoffte Einigkeit erzielt, die nötig wäre, um sich über die Nachkriegszeit Gedanken zu machen.
Der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, hat jede Glaubwürdigkeit verspielt; laut einer Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) unterstützen ihn nur noch 14 Prozent der Bevölkerung.[5]Als am 14. März der Wirtschaftswissenschaftler Mohammad Mustafa – ein Abbas-Getreuer, der früher für die Weltbank tätig war – zum neuen Regierungschef ernannt wurde, formierte sich heftiger Widerstand. Die Hamas kritisierte in einer Pressemitteilung, diese Entscheidung widerspreche dem „nationalen Konsens“ und werde die Gräben weiter vertiefen. In einer ungewöhnlich scharfen Erwiderung verwies die Fatah darauf, dass die Hamas den Angriff vom 7. Oktober 2023 einseitig beschlossen habe, und warf der Organisation vor, sie lasse sich für „ausländische Agenden“ einspannen.[6]
Offen bleibt weiter, welche Rolle die Hamas in Gaza zukünftig spielen wird. Jahia Sinwars Tod markiert das Ende einer Phase, aber mit Sicherheit nicht das Ende der Hamas. Dass der Westen sich angesichts der in Israel verübten Verbrechen weigert, die Bewegung als Gesprächspartner zu akzeptieren, ist legitim, aber die realen Kräfteverhältnisse vor Ort sind nun mal, wie sie sind.
Was der Organisation den eigenen Fortbestand sichert, ist ihre Fähigkeit, neue Mitglieder zu rekrutieren, weiterhin ein Mindestmaß an bewaffneten Aktionen durchzuführen und sich vor allem als ein Akteur in Stellung zu bringen, über den nicht hinwegregiert werden kann. Zu all dem ist die Hamas nach wie vor in der Lage, auch wenn ihre Handlungsmöglichkeiten unzweifelhaft geschrumpft sind.
Dass die Bewegung weiterbesteht, hat auch mit der Figur Jahia Sinwar zu tun, die die Israelis selbst mit aufgebaut haben. Die von der israelischen Armee verbreiteten Drohnenbilder vom letzten Lebensmoment des 62-Jährigen – mit Kufija in einem zerschossenen Gebäude – haben ihn ungewollt zur Ikone gemacht. Noch mehr als aus den Führungsfiguren der Hamas speist sich der bewaffnete Widerstand allerdings aus der Erkenntnis, dass Israel seit mehr als einem Jahr einen Krieg führt, dessen genozidale Züge sich immer wieder aufs Neue bestätigen, ohne dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Die palästinensische Zivilgesellschaft ist in einem seit 1948 nie dagewesenen Ausmaß mit Repressionen und Entwurzelung konfrontiert. Vor diesem Hintergrund wird die Hamas nach wie vor als Gegenbild zu einer von der Fatah kontrollierten Autonomiebehörde wahrgenommen, die mit den israelischen Behörden kooperiert und den Erwartungen der eigenen Bevölkerung nicht gerecht wird.
Solange kein internationaler Druck aufgebaut wird, um die Freilassung palästinensischer Häftlinge zu erreichen, die für eine Erneuerung der politischen Klasse sorgen könnten, wird ohne die Hamas nichts gehen – angefangen damit, dass es ohne sie nicht gelingen wird, die palästinensische Nationalbewegung zu einen.
1↑ Yarden Michaeli und Avi Scharf, „Road to redemption. How Israel’s war against Hamas turned into a springboard for Jewish settlement in Gaza“, Haaretz, 8. Juli 2024.
2↑ Meron Rapoport, „A plan to liquidate northern Gaza is gaining steam“, +972 Magazine,17. September 2024.
3↑ Mahmoud Naffakh, „Nord de Gaza. L’extermination méthodique des habitants de Jabaliya“, Orient XXI, 17. Oktober 2024.
4↑ Jair Lapid, „Israel’s hostages in Gaza are the most urgent mission“, Haaretz, 28. April 2024.
5↑ „Public Opinion Poll No 91“, Palestinian Center for Policy and Survey Research, 15. April 2024, pcpsr.org.
6↑ „Fatah says ‚whoever caused Israel’s reoccupation of Gaza doesn’t dictate national priorities‘ “, Palestinian News & Information Agency (Wafa), 25. März 2024, english.wafa.ps.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
Thomas Vescovi promoviert in Politikwissenschaften und ist Redaktionsmitglied des Blogs zum Nahostkonflikt Yaani.fr.
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