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Bitte Platz nehmen

Wenn die Bahn „Zukunftsbahnhöfe“ aus manchen ihrer Haltepunkte machen möchte, berufen sich ihre Vertreter schon mal auf die Station in Wolfsburg – weil dort seit Jahren die Kunst etwas Raum gewährt bekommt. Den bespielt derzeit klug-dialektisch das hannoversche Duo Lindner & Steinbrenner

Foto: Foto: Ali Altschaffel

Von Bettina Maria Brosowsky

Als hätte die Deutsche Bahn nicht schon genug mit der Gegenwart zu kämpfen, hat sie ein Programm für „Zukunftsbahnhöfe“ aufgelegt. Damit sollen neue Standards gesetzt werden: ganzheitlich in allen Bereichen, von der Verkehrsstation über das Empfangsgebäude und den Vorplatz bis zur Anschlussmobilität, die demografische Entwicklung wie auch den Klimawandel im Blick, so ließ es der Unternehmensvorstand Personenbahnhöfe verlautbaren. In Niedersachsen zählt Norddeich Mole zu diesen Zukunftsprojekten: Durch die maritime Neugestaltung des Bahnhofs, die sich über alle Wände erstreckt, heißt es, werde das Meer schon bei Ankunft erlebbar.

Tobias Finsterling, Leiter des Bahnhofsmanagements Braunschweig/Göttingen, stellte kürzlich den Bahnhof Wolfsburg quasi als Prototyp solcher Ambitionen vor. Schließlich werde hier seit 2005 erfolgreich mit Kunst experimentiert. Damals legte mit Daniel Buren aus Paris eine veritable Legende den Grundstein für alle folgenden Aktionen: Er versah den gesamten Fußbodenbereich von Bahnhofshalle und Tunnel bis zu den Gleisen mit einem Fliesenmuster. Den anthrazitfarbenen, diagonal verlegten Belag zieren weiße Elemente: Zebrastreifen im urbanen Raum, Pfeilspitzen im Tunnel – Zeichen des Ankommens oder Verlassens im Transitraum, ganz wie man will.

2006 war das Bodenkunstwerk dann erstmals Ausgangspunkt für eine weitere künstlerische Arbeit, eine „Kunst-Station“ in einem bescheidenen, 15 Quadratmeter großen Wartebereich der Bahnhofshalle direkt zwischen den zwei Zu- und Ausgangstüren. Anfangs im Jahresrhythmus, seit längerem zweimal pro Jahr neu interpretiert, haben bis heute mehr als 40 Künst­le­r:in­nen, Kollektive und Teams für diese Kunst-Station Hand angelegt, stets beauftragt durch eine Kooperation zwischen der Deutschen Bahn, der Städtischen Galerie Wolfsburg und einer örtlichen Wohnungsbaugesellschaft.

Die aktuelle 31. Fassung verantwortet nun das Duo Lotte Lindner & Till Steinbrenner. Die beiden Hannoveraner:innen sind in ihrer langen gemeinsamen künstlerischen Praxis mittlerweile zu Spe­zia­lis­t:in­nen für ungewöhnliche Raumressourcen geworden. Wenn eine künstlerische Intervention im öffentlichen Raum stattfindet, das auch noch vandalismussicher geraten soll und einschlägige Sicherheitsvorschriften zu beachten sind: Je höher die Ansprüche, umso interessanter wird es für Lindner & Steinbrenner.

Was bedeutet eigentlich Warten, haben sich die Künstler:innen gefragt– und sind Warteräume nicht der materielle Beleg für Einsteins Idee der „Raumzeit“?

Nach einigen zuletzt etwas abstrusen, exaltierten Kunst-Stationen überzeugt es, wie wohltuend besonnen und konzeptionell stringent sie zu Werke gegangen sind: Was bedeutet eigentlich Warten, haben sich die beiden gefragt – und sind Warteräume nicht der materielle Beleg für Einsteins Idee der „Raumzeit“? Dieser Grundbaustein der Relativitätstheorie formuliert, vereinfacht gesagt: Ereignisse werden subjektiv, eben relativ, gedeutet; Raum und Zeit aber bilden objektive Konstanten.

Schuss und Gegenschuss: virtuell endloser Wolfsburger Warteraum, einmal ohne, einmal mit den Künstler:innen Fotos: Lindner & Steinbrenner, Ali Altschaffel (u.)

In einer Art Casting wurden Wolfs­bur­ge­r:in­nen, dazu spontan In­ter­es­sen­t:in­nen am Bahnhof selbst eingeladen, einzeln auf den Wandbänken entlang der nackten Begrenzungswände der Raumnische Platz zu nehmen. Fotografien dieser Situationen haben Lindner & Steinbrenner digital zu einer Art endlosem Warteraum montiert, den mehrere, perspektivisch geschichtete Reihen von Sitzbänken mitsamt Wartegästen möblieren. Der reale Raum wird überwunden, entmaterialisiert, virtuell und somit relativ; die Wartenden, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten nur für kurze Momente tatsächlich hier waren, scheinen nun unverrückbar und konstant – objektiv – vorhanden zu sein.

Die Pointe ist natürlich, dass sich die szenische Erzählung des Warteraums nun mit jeder Person, die auf den vier physisch vorhandenen Sitzbänken Platz nimmt, immer wieder wandelt. Viele dort Sitzende werden von der künstlerischen Versuchsanordnung wohl gar nichts ahnen. Dennoch werden sie, in schöner Umkehrung der klassischen Verhältnisse von Rezeption und Produktion in der Kunst, zu Co-Produzent:innen dieser Kunst-Station; sie vervollständigen sie, kraft ihrer eigenen temporären Anwesenheit. Es lebe der Widerspruch, wenn nicht der dialektische, so doch der schöpferische.

Kunst-Station Horror Vacui II: bis 25. 3. 2025, Bahnhof Wolfsburg

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