: Grüner Angriff der Abtrünnigen
BRASILIEN Marina Silva will Präsidentschaftskandidatin der grünen Partei werden – und für den Erhalt des Regenwalds kämpfen
■ Die Verfassung verbietet dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inacío Lula da Silva, im Oktober 2010 erneut bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten. Allerdings ist seine Popularität so groß, dass er aus heutiger Sicht kaum Zweifel an seiner Wiederwahl gäbe. Aber anders als etliche seiner südamerikanischen Kollegen hat der Präsident eine entsprechende Verfassungsänderung kategorisch ausgeschlossen.
■ Das brasilianische Staatsoberhaupt muss die absolute Mehrheit auf sich vereinigen, notfalls im zweiten Wahlgang. Wegen der geplanten Kandidatur von Marina Silva ist nun alles offen. Laut Umfragen führt der oppositionelle Sozialdemokrat José Serra.
■ Auf der Linken dürfte neben Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei und Marina Silva, die höchstwahrscheinlich für die Grünen antritt, noch Exminister Ciro Gomes von der kleinen Sozialistischen Partei Brasiliens in den Ring steigen.
■ Offen ist, ob Heloísa Helena von der Partei des Sozialismus und der Freiheit, die es 2006 auf sieben Prozent brachte, erneutantritt. GD
AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER
Knapp sieben Jahre nach dem ersten Wahltriumph des früheren Metallgewerkschafters Luiz Inácio Lula da Silva ist die Hoffnung in die brasilianische Politik zurückgekehrt. Sie ist weiblich und trägt – wie der Staatschef – den Nachnamen Silva. Maria Osmarina da Silva Vaz de Lima will im kommenden Jahr die erste Präsidentin Brasiliens werden.
Fast zerbrechlich wirkt die 51-Jährige mit den dunklen Ringen um die Augen, der hohen Stimme und dem Haarknoten. Doch der erste Eindruck trügt: Marina Silva ist für ihre Ausdauer bekannt, und sie zählt zu den integren PolitikerInnen des Landes. Seit 1994 sitzt die frühere Gummizapferin und Mitstreiterin des Regenwald-Märtyrers Chico Mendes für die linke Arbeiterpartei PT im brasilianischen Oberhaus – mit einer Unterbrechung von knapp fünfeinhalb Jahren, als sie unter Lula Umweltministerin war.
Anfang 2008 rechnete sie die englische Tageszeitung Guardian zu den 50 Menschen, „die dabei helfen können, den Planeten zu retten“. Und das, obwohl sie bereits innerhalb von Lulas Mitte-links-Regierung immer stärker an den Rand gedrängt wurde. Vier Monate später erklärte Marina ihren Rücktritt mit den Worten: „Es ist besser, den Job zu verlieren als den gesunden Menschenverstand.“
Coup der Zierlichen
Nun hat ausgerechnet die Führungsspitze der kleinen Grünen Partei den Coup des Jahres eingefädelt, als sie Ende Juli Marina Silva zum Parteiwechsel aufforderte. Zugleich bot ihr die Parteispitze an, als grüne Präsidentschaftskandidatin im Jahr 2010 anzutreten. „Es ist die schwierigste Entscheidung meines Lebens“, bekannte die Senatorin vor zehn Tagen.
Seither hat sie unzählige Gespräche geführt, zunächst mit politischen Weggefährten und Verwandten im heimatlichen Amazonasbundesstat Acre, ganz im Westen Brasiliens. Vergangene Woche beknieten sie prominente Parteifreunde in São Paulo, Brasília und Salvador da Bahia, ihre 23-jährige PT-Mitgliedschaft nicht zu beenden – nur Präsident Lula, dem die Verfassung eine zweite Wiederwahl in Folge versagt, blieb stumm.
Nach einer langen Serie von Demütigungen schickt sich die zierliche Senatorin an, die politische Strategie ihres früheren Chefs gründlich zu durchkreuzen. Der Präsident hatte quasi im Alleingang seine rechte Hand und Parteifreundin Dilma Rousseff zur Wunschnachfolgerin erkoren. Seit Jahresbeginn versucht er die effiziente, aber wenig charismatische Präsidialamtsministerin zur Wahlkämpferin zu formen. Zusammen weihen sie Staudämme und Fabriken ein oder lancieren Sozialprogramme.
In der PT wie auch in Lulas Kabinett verkörperten Silva und Rousseff einen letztlich unüberwindbaren Gegensatz: Hier die Streiterin für „nachhaltige Entwicklung“, die auf Allianzen mit AktivistInnen und NGOs setzte. Dort die tüchtige Technokratin, die zuerst das Bergbau- und Energieministerium umbaute und seit 2005 alle Fäden im Kabinett in der Hand hält.
Lula pflegt Rousseff als „Mutter des Wachstumsbeschleunigungsprogramms“ zu bezeichnen, jenes Investitionspakets der Bundesregierung, das von Atomkraftwerken bis zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung reicht. Seine Jobs und sozialen Wohltaten sollen sich im Jahr 2010 in Millionen Wählerstimmen niederschlagen und vier Jahre später Lulas Rückkehr an die Macht ermöglichen.
Als wahrscheinlichstes Szenario galt lange Zeit ein Zweikampf zwischen den Wachstumsaposteln Rousseff und José Serra. Letzterer ist Gouverneur von São Paulo und rechter Sozialdemokrat, der Lula 2002 klar unterlegen war.
Gleichwohl ist der grundlegende Wandel in Brasilien, den Lula 2002 in Aussicht gestellt hatte, ausgeblieben. Der Raubbau in Amazonien geht weiter, eine Landreform lässt weiter auf sich warten, die politische Kaste betreibt ihr Geschacher um Macht und Geld ungenierter denn je. Seit Monaten dreht sich in der Hauptstadt Brasília fast alles um die Frage, ob Senatspräsident José Sarney, der 79-jährige Grandseigneur der korrupten Regionaleliten, seinen Hut nehmen muss oder nicht. Halten kann er sich bislang dank des Rückhalts Lulas, der die Koalition mit Sarneys Zentrumspartei PMDB fortsetzen will.
„Marinas Kandidatur bedeutet neuen Sauerstoff für die brasilianische Politik, meint João Pedro Stedile, der Chefstratege der Landlosenbewegung MST und selbst Mitglied von Lulas Arbeiterpartei. „Im kommenden Wahlkampf wird endlich wieder über verschiedene Projekte für Brasilien diskutiert.“ Zentrale Fragen wie die Umweltpolitik, der Erhalt des Amazonas-Regenwaldes oder die Produktion gesunder Lebensmittel könnten nun nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.
Roberto Liebgott vom katholischen Indianermissionsrat Cimi freut sich auf eine Ansprechpartnerin, die die Sache der Indigenen ernst nimmt, und fügt hinzu: „Marina könnte es gelingen, die Umweltpolitik vom intellektuellen Diskurs in die konkrete Realität herüberzubringen.“ Immer noch ist grünes Engagement in Brasilien eine Domäne der urbanen Mittelschicht – die meisten Menschen sehen nur selten den Zusammenhang zwischen ihrem täglichen Überlebenskampf und, beispielsweise, dem Klimawandel.
Wie die Zerstörung ganzer Lebensräume die Armut zementieren kann, hat Marina Silva von klein auf erlebt. Als eines von elf Kindern einer Gummizapferfamilie wurde sie im Urwald von Acre geboren. Drei ihrer Geschwister starben früh. Sie selbst hatte immer wieder mit Hepatitis, Malaria und Vergiftungen durch Schwermetalle zu kämpfen. Deswegen zog sie als 15-Jährige in die Provinzhauptstadt Rio Branco, wo sie lesen und schreiben lernte.
Den Wunsch, Nonne zu werden, gab sie auf, doch in den katholischen Basisgemeinden wurde sie rasch politisiert. Als Geschichtsstudentin schloss sie sich einer kommunistischen Splittergruppe an, die bald in der PT aufgehen sollte. Zusammen mit Chico Mendes organisierte sie die Proteste der Kautschuksammler und gründete 1985, gegen Ende des Militärregimes, den regionalen Zweig des linken Gewerkschaftsdachverbandes CUT.
Als jüngste Senatorin Brasiliens wurde Silva in den 90er-Jahren bald zu einer festen Größe in der internationalen Umweltszene. Ihr Engagement für Amazonien brachte ihr unzählige Preise ein, ihre geradlinige Art nötigte selbst ihren politischen Gegnern Respekt ab. Im Jahr 2002 machte sie Lula, der aus ebenso bescheidenen Verhältnissen stammt, zur Ministerin.
Doch mit ihrem Vorhaben, die Umweltpolitik in allen Ressorts zu verankern, ließ sie der Präsident allein. Seine Maxime hieß: Wirtschaftspolitik und Wachstum um jeden Preis. In Amazonien verbündete er sich mit den Sojaunternehmern und korrupten Regionalfürsten. Die Beton- und Stromlobby setzte den Bau von Großstaudämmen und Fernstraßen durch. Dem Agrobusiness gab Lula grünes Licht für den Einsatz der Gentechnik.
Jahrelang trug die vierfache Mutter Marina Silva und bekennende Evangelikale Lulas Kurs loyal mit, manchmal bis an die Grenze der Selbstverleugnung. Zwei riesigen Wasserkraftprojekten am Oberlauf des Amazonas-Nebenflusses Madeira erteilte sie widerwillig die Umweltlizenz. Sie errang aber auch Achtungserfolge gegen den Raubbau: „Wir haben 725 notorische Umweltzerstörer hinter Gitter gebracht“, sagt sie. In ihrer Amtszeit wurden mehr Nationalparks ausgewiesen als je zuvor.
Doch als ihr Lula über Nacht die Zuständigkeit für ein Amazonasprogramm entzog, das sie erarbeitet hatte, trat sie zurück. Von der Regierungsverantwortung befreit, wurde sie wieder als Senatorin und Kolumnistin aktiv. Im Juni folgte eine weitere bittere Niederlage: Zusammen mit den Regierungsmehrheiten im Parlament setzte der Präsident ein Dekret durch, das Landräuber in Amazonien im großen Stil belohnt.
Vom tiefen Verdruss über das korrupte politische System, dem Lula bislang nicht begegnet ist, könnte Marina Silva profitieren. Der Ökonom José Eli Veiga vertraut auf ihre Fähigkeit, eine überparteiliche Bewegung zu schmieden, und betont: „Religöse Menschen wie Marina richten sich nach einem ethischen Kodex, der dem jener Vulgärmaterialisten, die uns umgeben, unendlich überlegen ist.“
Profil gewinnen
„Für komplexe Prozesse braucht die Welt multizentrische Persönlichkeiten, die fähig sind, verschiedene Sichtweisen zusammenzubringen“, ist Silva überzeugt. Ein Kurswechsel der gegenwärtigen Entwicklungswege müsse „von innen heraus“ bewerkstelligt werden. Regierungen, Parteien, Akademiker und Meinungsmacher müssten sich einer breiten Debatte stellen.
Für die lange Kampagne bis zur Wahl im Oktober 2010 liebäugelt sie mit dem Mitterrand-Slogan „Die ruhige Kraft“. Ihre Chancen sind ungewiss, denn die brasilianischen Grünen sind nach 23 Jahren nicht über den Status einer heterogenen Minipartei hinausgekommen. Ebenso unklar wie mögliche Bündnispartner ist ihr programmatisches Profil. So bezeichnet denn auch Marina Silva die „Neugründung“ der Partei als vordringlichste Aufgabe.
„Die Frage der nachhaltigen Entwicklung, die die anderen ignorieren, muss für die Grünen strategische Bedeutung bekommen“, meint sie. Dort hofft man, die Fraktionsstärke im Abgeordnetenhaus von Brasília dank Silvas Kandidatur von 14 auf 25 steigern zu können. Das entspräche gut vier Prozent aller Sitze.
Diese Zahl lässt sich aber nicht auf das Stimmenpotenzial der grünen Präsidentschaftskandidatin hochrechnen. Interne Umfragen sehen Marina bereits gleichauf mit Dilma Rousseff. Im Umfeld Lulas wird man nervös, umgekehrt freuen sich die Konservativen über die Spaltung des linken Lagers.