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Die Töne befreien

Ein Visionär unterwegs zur Moderne: Die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor Berlin würdigen den Komponisten Ferruccio Busoni an drei Tagen in der Philharmonie mit seinem monumentalen Klavierkonzert

Von Tim Caspar Boehme

Er war ein international gefeierter Pianist, als Komponist hatte er es hingegen schwerer. Seine Ideen zur „Tonkunst“ waren seiner Zeit und dem Großteil seiner eigenen Musik weit voraus, stießen aber bei seinen Schülern auf offene Ohren: Ferruccio Busoni, 1866 bei Florenz geboren und 1924 in Berlin gestorben, verwundert als Künstler bis heute. Und fasziniert.

So auch die Berliner Philharmoniker und den Rundfunkchor Berlin, die zusammen mit dem Solisten Kirill Gerstein heute in der Philharmonie das Klavierkonzert Busonis aus dem Jahr 1904 aufführen. Diesen Koloss, der mit mehr als 70 Minuten Dauer den üblichen Rahmen dieser Gattung sprengt, dirigiert Sakari Oramo. Auch ein Männerchor kommt darin vor, von Busoni im letzten Satz als besonderer Einfall hinzugefügt, einstudiert hat ihn der künstlerische Leiter des Rundfunkchors, Gijs Leenaars.

Seiner monumentalen Dimensionen wegen gehört das Konzert zu den weniger häufig gespielten Werken, doch scheint der Klassikbetrieb mit Busoni insgesamt bis heute etwas zu fremdeln.

Zum Teil liegt das an Busoni selbst. Der Komponist sah sich einerseits fest in der Tradition verankert, seine großen Vorbilder waren Bach und Beethoven, andererseits dachte er Begriffe wie Tradition weit über die üblichen Konventionen hinaus. Seine Vorstellung von Musik war zuallererst von einem Wort bestimmt: „Freiheit“. Was man bei ihm, um Sorgen vor aufgeblähtem Pathos entgegenzuwirken, buchstäblich und ernst nehmen muss.

Dass Komponisten neben ihrem musikalischen Werk als Musiktheoretiker in Erscheinung treten und dabei Maßgebliches zu sagen haben, ist nicht die Regel. Busoni jedoch entwickelte in seinem 1907 erschienenen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ eine Reihe von Konzepten und Ansätzen, die erst später aufgegriffen und konsequent verwirklicht werden sollten. Darunter sind Ideen zu elektronischer oder zu mikrotonaler Musik.

Busoni, für den die Musik im Vergleich zu den anderen Künsten noch ein „Kind“ war, störte sich an deren „geheiligten Traditionen“ und „Gesetzen“, die als unumstößliche Gegebenheiten gehandelt würden. Dem setzt Busoni ein radikal gedachtes Credo entgegen: „Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung.“ Als „Schaffender“ mag man demnach zwar Gesetze aufstellen, dürfe jedoch nicht gegebenen Gesetzen folgen. Denn damit höre man auf, Schaffender zu sein.

Das fängt für ihn bei der Notation an. Für Busoni „ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen“, doch nichts, an dessen Buchstaben man sich sklavisch halten müsse. Was ihn nicht davon abhielt, die Gesamtausgabe der Klavierwerke Bachs beim Verlag Breitkopf & Härtel herauszugeben.

Grundsätzlicher wird er beim „Tonsystem“, dessen Einteilung in Dur und Moll er für genauso einengend hält wie die Aufteilung der Oktave in zwölf „gleich voneinander entfernte Stufen“. So macht sich Busoni zunächst daran, die bestehenden Tonleitern innerhalb des bestehenden Systems zu erweitern, indem er sie anders anordnet. In einem folgenden Schritt führt er sogar neue Abstände zwischen den Tönen ein. Die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, haben Komponisten im 20. Jahrhundert, ganz in seinem Sinne, auf ihre Weise aufgegriffen. Zu seinen Schülern gehörten Edgar Varèse und Kurt Weill, besonders Varèse griff zu extremen Mitteln, um die Tonkunst zu befreien.

Wenn man so gerüstet heute beziehungsweise morgen oder Sonnabend in die Philharmonie geht, um Busonis Klavierkonzert zu hören, könnte man von dem, was man geboten bekommt, womöglich enttäuscht sein. Denn Busoni schrieb das Stück in C-Dur, man hört vor allem die Klangsprache der Romantik, eine kontrapunktisch sehr dichte allerdings. Die Musik will merklich über ihre eigenen Grenzen hinaus, scheint ihre Befreiung aber mehr zu ahnen, als zu erleben. Einer seiner Kollegen, der auf Musik seit dem 20. Jahrhundert spezialisierte Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher, bemerkte zu Busoni einst, dass man, wenn man dessen Schriften lese und dann seine Musik höre, glauben könnte, man habe es mit zwei verschiedenen Personen zu tun.

Wobei zu Busonis durchaus modernen Ansichten ein leicht gebrochenes Verständnis von Moderne gehört: „Eigentlich Modernes existiert nicht – nur früher oder später Entstandenes; länger blühend, oder schneller welkend.“ Dass Busoni sich im Übrigen wiederholt auf die „ewige Harmonie“ beruft, ist keine konservative Geste. Harmonie ist bei ihm, wie Musik überhaupt, sehr weit ausbaufähig: „Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamtheit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne ‚Musik‘ am Himmel der ‚ewigen Harmonie‘.“

17. 10., 20 Uhr, 18.+19. 10., 19 Uhr, Philharmonie

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