: „Kreuzberg war immer einen Schritt voraus“
Ein Kongress der Heinrich-Böll-Stiftung sucht nach dem Mythos Kreuzberg. Für den Stadtplaner Ümit Bayam ist Kreuzberg stets ein Gradmesser für die politische Stimmung. In Zeiten von Hartz IV werde viel gejammert. Multikulti aber sei trotz einiger Reibereien nicht gescheitert, das ginge auch gar nicht
INTERVIEW SABINE AM ORDE
taz: Herr Bayam, fühlen Sie sich als Kreuzberger?
Ümit Bayam: Ja. Ich bin hier aufgewachsen und habe den größten Teil meines Lebens hier verbracht, mit kleineren Unterbrechungen. Mit dem Begriff Heimat kann ich zwar wenig anfangen. Aber ich habe ein Zuhause. Und das ist hier.
Manche Migranten der zweiten und dritten Generation sagen, dass sie sich zwischen den beiden Kulturen zerrissen fühlen. Empfinden Sie das auch so?
Ja, manchmal schon. Aber eigentlich habe ich mich für Berlin entschieden. Das gilt für den großen Teil der zweiten Generation. Sie hat hier die Schule besucht, sich eine Existenz aufgebaut. Aber ganz viele fahren immer wieder in die Türkei und gucken dort nach Jobs. Aus meinem Freundeskreis sind im letzten Jahr drei Leute – alle gut ausgebildet –nach Istanbul gezogen. Es gibt gerade eine richtige Istanbul-Welle.
Ist das für Sie auch eine Perspektive?
Im Moment nicht. Ich will eigentlich in Berlin bleiben. Aber ich denke häufiger daran als in den letzten Jahren. Istanbul bietet viele Perspektiven. Und die Türkei wandelt sich.
Sie sind Geschäftsführer des Stadtteilausschusses Kreuzberg und einer der Referenten beim Kongress „Mythos Kreuzberg“. Was macht aus Ihrer Sicht diesen Mythos aus?
Das kann man schwer sagen, weil Kreuzberg so vielschichtig ist in seinen Lebensformen, seinen Bevölkerungsstrukturen und seinen Kiezen. Ich kann nur sagen, wie Kreuzberg mich geprägt hat.
Wie?
Kreuzberg hat immer internationale, revolutionäre Gedanken und Bewegungen gehabt, es gab hier immer Menschen aus vielen Nationen, auch viele junge Menschen. Es war immer fortschrittlich und Berlin und dem ganzen Land einen Schritt voraus. Kreuzberg war für mich auch immer ein Gradmesser für die politische Stimmung.
Wie würde diese Messung jetzt ausfallen?
Jammertal. Hartz IV ist in aller Munde. Jeder, den ich hier treffe, klagt darüber.
Andere beschreiben Kreuzberg unter der Parole „Multikulti ist gescheitert“. Ist es das?
Multikulti kann nicht gescheitert sein, weil wir nun mal hier sind. Ich bin türkischstämmig und lebe seit 30 Jahren hier. Wir haben rund 150 unterschiedliche Nationalitäten in Kreuzberg – und das alltägliche Leben funktioniert! Natürlich gibt es Reibungen, aber das ist doch klar. Die Ansprüche sind viel zu hoch: Einen permanenten Austausch kann es nicht geben.
Was ist Ihr Anspruch?
Ein friedliches Nebeneinander. Permanenten Austausch gibt es doch auch nicht zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Ich erwarte auch nicht, dass sich die Steglitzer mit den Neuköllnern mischen.
Also ist alles okay?
Natürlich gibt es Probleme, das größte ist die Arbeitslosigkeit. Davon sind die Migranten am stärksten betroffen. Hinzu kommen die Defizite bei der Sprache der Jugendlichen und Kinder. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sie den Austausch mit deutschen Kindern nicht haben, weil es in einem Teil der Gebiete hier kaum noch Deutsche gibt. In meiner Kindheit war das anders. Ich habe damals gesehen, dass die deutschen Kinder in die Musikschule gehen oder in den Sportverein oder am Wochenende mit den Eltern rodeln – und wollte das auch machen. Das hat mich sehr geprägt.
Andere nennen das, was Sie beschreiben, eine Parallelgesellschaft.
Das ist falsch. Es gibt höchstens Ansätze dazu. Ein Beispiel: Hier in unserem Büro in der Skalitzer Straße im Hinterhaus wohnen hundert Prozent kurdisch- und türkischstämmige Menschen. Im Sommer erlebt man im Hinterhof ein kleines kurdisches Dorf. Die Frauen stricken, die Männer grillen. Sie sprechen alle sehr schlecht Deutsch. Aber sie managen ihr Leben. Und sie sind zufrieden. Warum soll man sie also integrieren in der Form, dass sie Deutsch lernen sollen, bestimmte Verhaltensweisen übernehmen?
Weil ihre Kinder – selbst wenn sie wollen – keine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe haben, weil sie kaum Deutsch sprechen.
Genau, da fängt das Problem an. Aber die Eltern können ihren Kindern nicht das geben, was sie dazu brauchen. Das müssen andere tun, vor allem die Schule und auch der außerschulische Bereich.
Was kann der Stadtteilausschuss tun, um die Situation im Kiez zu verbessern?
In unser Büro kommen viele Leute mit den unterschiedlichsten Anliegen. In den Gesprächen versuche ich herauszufinden, wie man sie einbinden und motivieren kann. Inzwischen gibt es unter den Migranten sehr viele Rentner, die hier bleiben. Diese Menschen haben nur gearbeitet, sie haben keine Hobbys, deshalb wissen sie auch nicht sich zu beschäftigen. Alle Deutschen haben ein Hobby. Das ist gut: Sie sitzen nicht nur rum und konsumieren, sondern werden aktiv. Jugendliche von der Schule nebenan sind fast jeden Tag hier. Ich versuche, ihnen zu zeigen: Ich komme aus genau den gleichen Verhältnissen wie ihr und ich habe studiert. Das könnt ihr auch schaffen. Ihr Spruch ist immer: Ich gehe weg aus Kreuzberg. Kreuzberg ist für sie ein Ort geworden, der sie von einem besseren Leben abhält.
Die klassischen Aufgaben des Stadtteilausschusses sind andere. Wie tragen Sie zur Verbesserung bei?
Ich versuche besonders die, die beschäftigungslos sind, in die Arbeit für den Kiez einzubinden. Ich sage ihnen: Das ist euer Zuhause, tut was dafür. Das sind zum Teil ganz einfache Sachen wie Baumpatenschaften. Wir gestalten auch Spielplätze neu: gemeinsam mit den Jugendlichen, den Kindern, den Eltern. In der Naunynstraße wollten sie Murmelbahnen und Märchenfiguren aus der Türkei. Beim Einweihungsfest waren die Eltern die ganze Zeit dabei, sie haben gebacken und gekocht. Wir haben so einen Bezug geschaffen zwischen den Menschen und dieser Fläche. Sie beteiligen sich, wenn es um etwas Konkretes geht. Mit Diskussionsrunden und Podien funktioniert das nicht.