Tschüss Sommer
Mitten in „Nightswimming“, jener filigranen, barocken Klavierballade des vielleicht besten, sicher aber erfolgreichsten R.E.M.-Albums „Automatic For The People“, singt Michael Stipe, wie nur er es kann: „September’s coming soon.“ Der bis dahin eher leichtfüßige Song bekommt plötzlich eine bittersüße Schwere – und eine überraschend konkrete Datierung im Kalender: Dieses Schwimmen, das – daran lässt der Song keinen Zweifel – nicht nur nachts, sondern auch nackt stattfindet, das wird bald nicht mehr möglich sein.
„August sipped away like a bottle of wine“ singt Taylor Swift in „August“ und es ist einigermaßen klar, dass dem Rausch ein Kater folgen wird: Ab dem 1. September rechnen Meteorolog*innen ihre Beobachtungen in der Kategorie „Herbst“ ab, genau drei Wochen später – und damit kurz nach dem Jahrestag eines offenbar legendären 21. Septembers, an den Earth, Wind & Fire in ihrem Über-Hit „September“ erinnern – ist Tag-und-Nacht-Gleiche und damit auch astronomisch Herbst.
Der Klimawandel beschert uns schon seit Längerem Spätsommer oder Frühherbste, jedenfalls zumeist ganze September, wenn nicht gar noch Oktober, die noch mal in voller Kraft strahlen und so den Abschied mildern. Aber noch immer wohnt jedem Ende des Sommers ein Zauber inne.
Jetzt beginnt die Goldene Stunde eines Jahres: Kurz bevor es dunkel wird, leuchtet alles noch einmal ganz besonders. Lass uns jetzt ein Foto machen, damit wir hinterher auf Instagram beweisen können, dabeigewesen zu sein! Die Sonne wird untergehen, aber sie sagt uns noch einmal: „Keine Angst, ich werde wiederkommen.“ Ob eine Umdrehung um die eigene Achse oder eine ganze Runde um die Sonne: Alles wird immer weitergehen – aber eben erst mal nicht so, wie es jetzt gerade ist. Melancholie als Installation im öffentlichen Raum.
Taylor Swifts Song erzählt auch von der großen einseitigen Sommerliebe unter Teenagern, die letztlich die Ferienzeit nicht übersteht. Der August ist – zumindest in weiten Teilen der USA und den relevanten Bundesländern – der Monat, in dem die Schule wieder beginnt; bei allem Frust (Ferienende! Schulbeginn!) immer auch soziale Verheißung: ein Wiedersehen mit Freund*innen, neue Gesichter, neue Dynamiken und irgendwann, wenn man in das Alter kommt, auch die ersten gemeinsamen Abende in Parks, an See- oder Flussufern und in Clubs.
Man vergisst es im Erwachsenenalter durch so traurige Konstrukte wie Veranlagungszeiträume, Jahresrückblicke (im November!) und den Stichtag, zu dem man die Kfz-Versicherung wechseln muss, aber: Bis Mitte zwanzig beginnt das Jahr im Spätsommer und endet im Frühsommer. Auch die Staffeln traditioneller Fernsehserien laufen dann. Und die Fußball-Bundesliga eh.
Die „Summer Skin“ (Death Cab For Cutie) pellt sich ab, der Rest der Haut verschwindet unter langen Hosen und Pullovern. „The last day of summer never felt so cold“ singen The Cure. Und die müssen es wissen. Lukas Heinser