: Knapp über der Gürtellinie
Ausstellungen von Miriam Cahn, Alison Knowles und Carol Rama brechen die lange Dominanz der Männer im Kunstbetrieb auf
Von Jana Janika Bach
Der „brat summer“ („Gören-Sommer“), in dem ein Video viral ging, das Kamala Harris beim Kauf cooler Schallplatten zeigt, liegt in seinen letzten Zügen. Seither scheint die Welt wieder ein bisschen in Ordnung – selbstbewusste Frauen, die wie die US-Vizepräsidentin in der Öffentlichkeit tanzen oder lauthals lachen, gelten als angesagt, Männer wie Trump, die sie dafür verspotteten, als „weird“.
Ob die Meme-Begeisterung für Harris anhalten wird, bleibt abzuwarten. Der Kunstherbst jedenfalls, programmatisch bunt, hat das Zeug zu enthusiasmieren. In Weil am Rhein beleuchtet das Vitra Design Museum mit „Nike. Form Follows Motion“ die popkulturelle Bedeutung der Sportmarke. Im Schweizer Kunstmuseum Thun lässt sich in „Textile Universen“ von Gunta Stölzl und Johannes Itten eintauchen, während in der Hauptstadt zur Berlin Art Week sicher wieder der Teufel los sein wird – allein 70 Ausstellungen eröffnen in der Festivalwoche. Vor allem aber scheint vieles auffällig anschlussfähig zu eingangs Erwähntem.
Die Beine gespreizt, die Zähne blitzend, unverhohlen schaut die Frau zurück, eine andere schlägt einem Mann mit erigiertem Penis ins Gesicht. In der Ausstellung „Lachen müssen“ von 2018 provozierte Miriam Cahn mit explizit dargestellter Nacktheit, Gewalt und Sexualität. Treffsicher zielt die streitbare Schweizer Künstlerin, eine exzessive Zeitungsleserin, mit ihrer zorngetriebenen Kunst, die in ihrer dezidiert feministischen Haltung wurzelt, knapp über die Gürtellinie. Vermehrt wird sie jedoch missverstanden. Wie 2023, als ihr im Pariser Palais de Tokyo ausgestelltes Gemälde „Fuck Abstraction!“ eine Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit in Frankreich entfachte. Rechtspopulisten aus dem Dunstkreis um Marine Le Pen hatten unermüdlich gegen das Ölbild gehetzt, das drei Figuren und eine erzwungene Fellatio abbildet. Entstanden war es nach den verübten Gräueltaten in Butscha. Eine Klage wegen „Verherrlichung von Kinderpornografie“ wurde vom Pariser Verwaltungsgericht zurückgewiesen.
In der Kunstwelt indes wird die sich in ihrer Kompromisslosigkeit treu gebliebene Cahn mit Preisen bedacht. Das war nicht immer so. Jüngst sagte sie ihre Teilnahme an der Verleihung des Goslarer Kaiserrings ab. Nach der Preisvergabe – 2024 ohne Künstlerin – wird traditionsgemäß im Mönchehaus Museum die dazugehörige Ausstellung präsentiert. Dass sie die Schau „Reading Dust“ im Amsterdamer Stedelijk für die bedeutendere halte, ließ Cahn durchblicken, diese habe sie schließlich selbst installiert.
Von einer Empore in der rappelvollen Turbinenhalle der Tate Modern aus schüttete Alison Knowles 2008 ihre Soße auf einen „Giant“-Salat, angerichtet in einem von Helfern gehaltenen Sprungtuch. Im Anschluss wurde er in der Kunstkathedrale verteilt und verspeist – ein Mega-Happening in bester ephemerer Fluxus-Manier.
1962 schnippelte die US-Amerikanerin, einzige weibliche Mitbegründerin der Fluxus-Bewegung, erstmals Gemüse öffentlich, seither hat sie ihre wohl berühmteste Performance „Make a Salad“ dutzende Male aufgeführt. Zum Repertoire von Knowles gehören zudem Publikationen und Kollaborationen, wie das „begehbare“ Buch „Big Book“ oder die mit dem Komponisten John Cage erstellte Sammlung „Notations“, in der sich Faksimiles, Partituren und die Lyrics zum Beatle-Song „The World“ finden. Ausgerechnet in Wiesbaden, wo Knowles 29-jährig in den Sechzigern mit Dick Higgins, Nam June Paik, George Maciunas und anderen Kollegen die Einheimischen mit einer Konzertreihe verstörte, kommentiert mit „die Irren sind los“, ehrt eine Retrospektive ab September die Fluxus-Pionierin.
Sie gelangte erst spät zu Ruhm, ein harmlos klingender Satz, der es aber in sich hat. Dass dieser auf die Autodidaktin Carol Rama, 1918 in Turin geboren, zutrifft, ist ein weiterer Beleg für die viel zu lange währende Dominanz der Männer im Kunstbetrieb.
85 Jahre war die „Grande Dame der italienischen Avantgarde“ alt, als sie 2003 einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk auf der Biennale von Venedig erhielt, den sie beinahe im Müll entsorgt hätte. Mitte der 1930er begann die 2015 verstorbene Künstlerin, heute bekannt für ihre frühen aberwitzig-erotischen Aquarelle, zu malen – mit einer Fokussierung auf Zungen, Phalli, Brustwarzen, Vaginen und Münder. Mit elegantem Strich fasste sie etwa fragmentierte, verdrehte Frauenkörper. Abscheulich obszön sei das, befand ein Publikum im faschistischen Italien. 1945 beschlagnahmte die Polizei ihre Werke noch vor Eröffnung ihrer Ausstellung in der Galerie Faber. In späteren Arbeiten, den Gummiassemblagen und -Collagen, wird Biografisches sichtbar, die psychische Erkrankung und Klinikaufenthalte der Mutter und der Vater, ein Entrepreneur, der nach dem Bankrott Suizid beging. Mit einer Überblicksausstellung würdigt die Frankfurter Schirn Carol Rama nun als Wegbereiterin feministischer Kunst.
Im Gegensatz dazu feiert das Wuppertaler Von der Heydt-Museum den italienisch-argentinischen Avantgardekünstler Lucio Fontana als genialen Visionär neuer Formen und Konzepte. Kaum einer, der seine monochromen Leinwände, mit einem Messer durchstochen und geschlitzt, nicht kennt. Ein befreiender Akt der Zerstörung, mehr Bedeutung wurde den „Concetti spaziali“ vorläufig nicht beigemessen, nichtsdestotrotz machte sich Fontana als Erneuerer der europäischen Nachkriegskunst über Italien hinaus einen Namen. Seine Praxis Licht, Raum und Material zusammenzubringen, unterfütterte er theoretisch mit seinem „Manifesto Blanco“, in dem er eine völlig neue Kunstgattung – Malerei, Bildhauerei und Architektur in einem – entwarf.
Im Alter von 69 Jahren, zwei Jahre, nachdem seine Malerei bei der Biennale von Venedig mit dem Großen Preis prämiert worden war, starb Fontana in Varese. Wenig Beachtung fand zeit seines Lebens, dass er auch ein Meister der Keramikkunst war. Er fertigte perforierte Gefäße oder glasierte Teller und Medusa-Büsten. Mit allein 100 Leihgaben wird in Wuppertal jetzt Fontanas Facettenreichtum erlebbar sowie sein Einfluss auf folgende Generationen, freundschaftlich verbunden war er der Zerogruppe um Yves Klein, Otto Piene und Günther Uecker.
Ebenfalls in Wuppertal wird ein Schlaglicht auf Maurice de Vlaminck geworfen, den exzentrischsten Vertreter des Fauvismus, während es in der Fondation Beyeler nahe Basel die erste Henri-Matisse-Retrospektive im deutschsprachigen Raum seit fast 20 Jahren zu bestaunen gibt – darunter auch einige fauvistische Werke von Matisse.
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