In der Theaterfavela

Sechseinhalb Stunde reiner Ausdruck: Frank Castorfs Inszenierung von „Schuld und Sühne“ am Wiener Burgtheater präsentiert das Scheitern als Überproduktionskrise

VON UWE MATTHEISS

Der Container kann mittlerweile als zentrales Moment gegenwärtiger Theaterpraxis behauptet werden. Seine scharfen Wellblechkanten schneiden aus den Strömen des gesellschaftlichen Stoffwechsels jene Stücke heraus, die auf Bühnen noch immer als in sich abgeschlossene, durchgängige Figuren auftreten. Das Normmaß des Behälters wird zum principium individuationis. An seinem Bild wird Psychologie unwahr als Theorie der möglicherweise beschädigten, im Grunde aber doch handlungsfähigen Einzelheit. Sie entstammt einem anderen Raumkonzept. Wo das Theater einst mit den Mitteln virtuoser Schauspielkunst über das mögliche Innenleben autonomer Handlungsträger spekulierte, kann man in den Bühnenwelten von Bert Neumann einfach nachschauen. Container, Kamera und Projektionsfläche erzielen mit dem Mittel der theatralischen Nahaufnahme einen entscheidenden Fortschritt der Theaterproduktionsweise durch die Vervielfältigung von Betrachtungsperspektiven.

Hierin liegen die apparativen Voraussetzungen für Frank Castorfs Projekt, die Hervorbringungen vergangener idealistischer Spekulation zum Zweck zeitgenössischer Erkenntnis mit neuen Instrumenten zu sezieren. „Schuld und Sühne“ ist mittlerweile seine vierte Arbeit über Dostojewski. Was bei den seit einigen Jahren üblichen Vorserienaufführungen von Volksbühnenproduktionen bei den Wiener Festwochen diesmal besonders auffällt, ist die Weiterentwicklung der Versuchsanordnung.

Bei „Dämonen“ 1999 stand noch der zentrale Datschencontainer als Verfallsform des bürgerlichen Salons im Nichts der Bühne des Wiener Burgtheaters. Eine im Postsozialismus funktions- und geschichtslos gewordene Führungsschicht räsonierte über ihren Wiedereintritt ins Politische. Die Containerlandschaft von „Schuld und Sühne“ kennt längst kein Außen mehr, von dem aus ein Ort des Politischen zu bestimmen wäre. Die Theaterfavela wuchert mittlerweile dezentriert und dreistöckig auf der Drehbühne im Theater an der Wien. Auch die zentrale Projektionseinheit ist verschwunden. Sie überstrahlt nicht mehr als theatrales Superzeichen die Bühneninstallation wie eine Lichtreklame. In „Schuld und Sühne“ sind die Lichter blind geworden. Nur noch ein paar weiße Dioden funkeln in die leere Nacht. Darunter schwelt Unterkonsumismus.

Puff, Kneipe und Schlafstatt, die Eckdaten einer geordneten Reproduktion von Arbeitskraft, die keiner mehr braucht, sind Orte von verinnerlichten Entfremdungsprozessen geworden. Das Private als das vorgeblich Eigene ist abgeschrieben. Die einverleibte Ökonomie verursacht Abstoßungsreaktionen. In der ersten Stunde verschlingen die AkteurInnen gierig fettes Schweinefleisch, um es hernach immer wieder herauszukotzen. Existenzphilosophie dampft zwischen Kohldunst und minderwertigem Schweinefleisch hervor. Über das Moment der Wahl schwadroniert in der Regel der, der keine mehr hat.

Der äußere Gang der Handlung ist geläufig. Der späte Student Raskolnikow (Martin Wuttke) ermordet die Pfandleiherin Aljona Iwanowna (Silvia Rieger) aus Geldmangel, entwirft sich darob als Held eines nachmoralischen Geniekults und streitet mit dem toten Gott über die Vorrechte des Übermenschen. Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt, was das Kapitalverhältnis zulässt. Von unsichtbarer Hand geleitet taumelt der metaphysisch obdachlose Held in die Fänge des ermittelnden Staatsanwalts Porfiri Petrowitsch (Thomas Thieme), um zu beichten.

Walter Benjamins in dem in den Programmbeigaben zitierten Textfragment „Kapitalismus als Religion“ bildet das Missinglink zwischen den theologisch-philosophischen Spekulationen Dostojewskis und der ihnen zugrunde liegenden Handlungsökonomie. Als fortschreitender Verschuldungszusammenhang, als Kult der Immanenz tendiert er auch zur Totalisierung der Repräsentation, die kein Außen kennt und das Repräsentationsverhältnis selbst verdeckt.

Dem Theater als jenem Medium, das die Frage der Repräsentation ins Zentrum rückt und verhandelt, gerät dieser Umstand zur Krise. Castorfs Theater entlässt auf der Höhe seiner technischen Möglichkeiten die Schauspielkunst endgültig aus dem Zweck, bloße Dienerin der Theaternarration zu sein. Was bleibt, ist die Ensemble-übliche Virtuosität. Außer den genannten stehen hierfür auch Irina Kastrinidis, Hendrik Arnst, Jeanette Spassova, Frank Büttner, Milan Peschel, Kurt Naumann, Bernhard Schütz und Birgit Minichmayr und andere. „Schuld und Sühne“ in Wien sind sechseinhalb Stunden reiner Ausdruck, ein performativer Überschuss, der sich diesmal nicht in eine Form zurückbinden ließ. Der Abend scheitert als gigantische Überproduktionskrise des Theaters.