Kinder, Kosten, Karriere

Die beste Familienpolitik machen Länder, die das Wort Familienpolitik gar nicht kennen: Der Journalist Ulrich Deupmann erklärt in „Die Macht der Kinder“ lesenswert, warum

VON WARNFRIED DETTLING

Der Grafiker hat ganze Arbeit geleistet. „Macht Kinder!“ prangt in roten und grünen Lettern auf dem Einband des Buches, jedenfalls auf den ersten Blick. Und damit ist eine durchaus ernst gemeinte Botschaft des Verfassers auf den Punkt gebracht. Der Journalist Ulrich Deupmann ruft Deutsche wie Migranten dazu auf, mehr Kinder zu bekommen: Eine Million pro Jahr seien ab dem Jahre 2010 realistisch, möglich und auch nötig – statt der schlappen 700.000, die gegenwärtig in Deutschland geboren werden. So sieht er also aus, der Fünfjahresplan für die Reproduktion, und das auch noch angesichts der Tatsache, dass sich die Reproduktionsmittel, wie Gerhard Schröder einmal beiläufig anmerkte, nur schlecht verstaatlichen lassen …

Doch Ulrich Deupmann meint es ernst, und er kann auch gute Gründe anführen, wenn er für eine andere Familien- und Bildungspolitik und für eine aktive und moderne Bevölkerungspolitik plädiert. Auch hierfür bringt der Titel des Buches, in seiner Langform, die These und das Anliegen des Autors auf den Begriff: „Die Macht der Kinder“. Diese Macht, dieser bestimmende Einfluss auf die Entwicklung des Landes, besteht darin, dass ohne eine größere Zahl von Kindern der Wohlstand der Gesellschaft und die Wohlfahrt der Menschen auf Dauer nicht zu halten sind. Kinder, so argumentiert der Autor, sind keine Privatangelegenheit, sie sind vielmehr so etwas wie „öffentliche Güter“.

Das ist für deutsche Ohren eine ungewohnte und für viele gar eine gefährliche Wendung, vor allem dann, wenn man nicht genau und differenziert genug hinschaut. Gewiss, niemand bekommt Kinder der Rente oder, allgemeiner, der demografischen Entwicklung wegen. Wahr ist aber auch: Kinder gehören, wie übrigens auch Bildung, zu jenen „Gütern“, die das Leben Einzelner und gleichzeitig die Zukunft des Ganzen positiv betreffen. Sie werden, das ist entscheidend, suboptimal „hergestellt“, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, wenn man die Entwicklung sich selbst überlässt. Deupmann hat Recht: An Kindern erkennt man die Zukunftsfähigkeit eines Landes. Was sein Buch wichtig und wertvoll macht, sind vor allem drei Dinge: Die Analyse ist umfassend. Seine Vorschläge beschränken sich nicht auf Maßnahmen, sondern sie zielen auf den radikalen Umbau der gesamten Gesellschaft. Und: Sie zielen in die richtige Richtung.

Das Buch beschreibt zunächst die „demografische Zeitbombe“ und ihre Folgen. Es geht kritisch auf das bevölkerungspolitische Erbe des „Dritten Reiches“ ein, zu dem nicht zuletzt auch der „deutsche Muttermythos“ gehört. Schwerpunkte des Buches bilden oft nur marginal erörterte Themen wie Bildung für alle oder die Bedeutung des Humankapitals für die Wissensgesellschaft. Es gehe nicht nur um mehr Kinder, sondern auch um eine optimale Ausbildung für jedes Kind. Deutschland müsse „eine Ideen- und Denkfabrik für die ganze Welt“ werden.

Deupmann rückt die Integration und das (nicht ausgeschöpfte) Potenzial der Zuwanderer in einen neuen Kontext: vom sozialen Thema am Rande der Gesellschaft zur Antwort auf die zentrale Frage, wie deutsche Städte im Jahre 2030 bei schrumpfenden Erwerbspersonenzahlen wirtschaftlich, sozial und kulturell leistungs- und wettbewerbsfähig bleiben wollen. Das Kapitel „Entmündigt und abgespeist – die vergessene Unterschicht“ bringt eine bittere Kritik der traditionellen Armutspolitik und schlägt neue Wege der Armutsbekämpfung vor.

Wie bei der Analyse, so folgt der Autor auch bei der Therapie seinem Motto: Familienpolitik ist mehr als Familienpolitik. Überhaupt geht er eher sparsam mit den Begriffen „Familie“ und „Familienpolitik“ um, weiß er doch, dass es in jenen Ländern (Frankreich, Skandinavien) für Familien und Kinder besser aussieht, die den Begriff „Familienpolitik“ gar nicht kennen. So spricht man in den nordischen Ländern lieber von der Gleichheit der Geschlechter im Hinblick auf Beruf und Familie als dem Kardinalwert der einschlägigen Politik, in Frankreich mehr von der „Reconciliation“, der Versöhnung von Familie und Beruf.

In dieser Tradition spricht Deupmann lieber von konkreten Personen und Problemen, von Eltern und Kindern, Vätern und Müttern, von Bildung und Betreuung. Seine zentrale Forderung lautet: Kinder müssen auf der Agenda des Landes ganz nach vorne rücken. Der Umbau des Landes zur „Kinderrepublik Deutschland“ sei das wichtigste Projekt der nächsten zwanzig Jahre. Konkret schlägt er eine großzügige und kostenlose Ganztagsbetreuung und die Einführung eines Elterngeldes nach der Geburt eines Kindes vor für die Dauer von zwölf Monaten und als Lohnersatz in Höhe von 80 Prozent des letzten Nettogehaltes.

Deupmanns kluges, informatives und auch gut geschriebenes Buch ist ein weiteres Beispiel für den Paradigmenwechsel in der Familienpolitik in diesen Jahren, wie er nicht zuletzt von Ministerin Renate Schmidt energisch vorangetrieben wird. Zu diesem Politikwechsel gehört es, alle finanziellen Anreize („Disincentives“), die Frauen im Namen der Familie vom Arbeitsmarkt weg- und in die Hausfrauenehe hineinlocken, kritisch zu prüfen. Es bricht sich langsam die nur auf den ersten Blick paradoxe Erkenntnis Bahn: Nur eine Politik und entsprechende Rahmenbedingungen, die nicht die Abhängigkeit der Frauen in Kauf nehmen, sondern ausdrücklich die ökonomische Selbstständigkeit von Frauen zum Ziel haben, werden am Ende auch zu mehr Kindern führen, die Familienarmut erfolgreich bekämpfen und überhaupt besser sein für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Auf dem Weg zu diesem Ziel gehört Dramatisieren zum Geschäft, nicht nur auf dem Boulevard. Man muss deshalb nicht gleich die „Kinderrepublik Deutschland“ ausrufen. Es geht um eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Lebensverläufe sich leichter leben lassen, ganz gewiss auch solche, in der Kinder und Karriere ihren natürlichen Platz haben. Ulrich Deupmann zeigt in seinem Buch, wie es gehen könnte.

Ulrich Deupmann: „Die Macht der Kinder“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 240 Seiten, 16,90 Euro