Joachim Schulz
: Abgang eines Kopfballungeheuers

Der Ball flog über den Zaun der Lise-Meitner-Schule: Er klatschte gegen Raimunds Schläfe, und Raimund verdrehte die Augen und sank wie ein alter Sitzsack auf den Bürgersteig.

„Das Fußballspielen auf dem Schulhof ist verboten – vormittags, nachmittags, immer!“, knarzte in Sichtweite der alte Schwarte. Er lehnte wie üblich auf einem speckigen Kissen auf seiner Fensterbank und schimpfte über alles, was draußen geschah.

„Alter!“, stotterte Theo und kniete neben Raimund nieder. „Ey, das war doch nur ’n Fußball!“ Er gab ihm einen Klaps auf die Wange, doch Raimund stöhnte nur leise, während ein Junge über den Zaun sprang, sich den Ball grabschte und mit seinen Kumpels davonrannte.

„Wir brauchen einen Arzt!“, rief eine junge Frau. Es bildete sich ein Menschenauflauf und zwei junge Burschen hielten ihre Handys hoch, um Videos zu machen.

„Raimund?“ Theo fasste ihn an den Schultern und schüttelte ihn sacht. „Der ist ja richtig bewusstlos!“, rief die junge Frau. „Warum ruft denn niemand einen Arzt?!“

Die beiden Burschen, die Videos machten, rangelten auf der Suche nach der besseren Per­spek­tive miteinander. Ein weiterer Typ mit Smartphone drängte sich nach vorne: Er sprach direkt in die Kamera, doch in seinem Livekommentar war schon nicht mehr von einem abgefälschten Fußball, sondern von einem Raubüberfall die Rede.

„Wachtmeister, endlich!“, rief der alte Schwarte, der hinter der Menschentraube in Vergessenheit zu geraten drohte. Er hatte den dicken Hilfspolizisten vom Ordnungsamt entdeckt, der seine Runde machte und Parkzettel kontrollierte. „Da sind sie entlang!“, rief Schwarte und zeigte in Richtung Goethe­platz. Der Dicke rührte sich nicht. „Sie müssen die Verfolgung aufnehmen! Und wenn Sie zu viel Schnitzel mit Pommes auf den Rippen haben, rufen sie das SEK!“

Der Typ, der den Raubüberfall erfunden hatte, war näher gekommen. Jetzt erfand er auch noch ein paar Nordafrikaner und ein Messer, mit dem sie Raimund niedergestochen hätten, doch weil wir ja zum Glück im Goetheplatzviertel waren, sprangen zwei junge Punks herbei, die ihm das Telefon aus der Hand wanden und ein anarchistisches Kasperletheater vor der Kamera entfachten, das in einer furiosen Publikumsbeschimpfung gipfelte.

Raimund kam zu sich. „Alter, ich denk’, du bist das Kopfballungeheuer vom Krekelplatz?!“, sagte Theo, denn vor vielen Jahren hatte Raimund sich diesen Ehrentitel in einer legendären Freizeitkickerpartie erworben, als er trotz einer Kopfverletzung wie weiland Dieter Hoeneß mit einem Turbanverband weitergespielt und mit einem Flugkopfball den entscheidenden Treffer erzielt hatte.

Doch diese Zeiten waren vorbei, und als wir Raimund erzählten, wieso er zu Boden gegangen war, sagte er nur: „Wie peinlich!“, und wir verpissten uns, bevor doch noch jemand auf die Idee kam, einen Arzt zu rufen.