WOHNGELD FÜR AKADEMIKER
: Auf die Zukunft!

„Da hilft nur Wodka!“, sagt Irina

Letzten Sonntag war ich beim Essen mit den schönen klugen Frauen. Die schönen klugen Frauen sind meine Tante Erna und ihre Freundinnen: Irina, Ute und Marion, alles Akademikerinnen, alle um die sechzig und alle ausm Osten. Ich nenne sie auch „meine Vizemütter“. Irina hatte gekocht. Es gab Borschtsch mit saurer Sahne und vorher Wurst und russisches Brot und Wodka.

„Mein ganzes Leben lang habe ich nur gearbeitet“, sagt Tante Erna, „seit ich 25 bin – nichts als Arbeit. Jetzt ziehen sie mir für jedes Jahr, das ich früher in Rente gehe, hundert Euro monatlich von der Rente ab. Hundert Euro! Das heißt, ich muss die vollen sieben Jahre noch machen. Wie soll ich sonst meine Miete zahlen?“

Marion erzählt von ihrer ehemaligen Schulfreundin Gerda: „Die ist seit über vierzig Jahren Kosmetikerin, und ihr Gehalt ist so niedrig, dass sie jetzt Wohngeld beantragen musste.“ Ute fummelt am silbernen Serviettenring. „Ich krieg jetzt auch Wohngeld“, sagt sie. Ich bin bestürzt. Ute ist promoviert, hat viele kluge Bücher geschrieben und an wichtigen Instituten gearbeitet. Jetzt ist sie freischaffend und hat Alpträume.

Irina räumt die Suppenteller ab und erzählt von einem Kollegen, der seit einem halben Jahr Tabletten nimmt gegen die Angst vor der Zukunft. „Bin ich froh, dass ich schon in Rente bin!“, sagt Irina und bringt den Nachtisch. „Das Schlimme ist, dass es trotzdem nicht reicht“, sagt Ute und dreht den Serviettenring wie einen Kreisel.

„Ich bräuchte einen Sekretärinnenjob oder so was. Aber dafür bin ich zu alt.“ „Und überqualifiziert“, sagt Tante Erna. „Ja“, sagt Ute, „über- und unterqualifiziert. Schließlich war ich noch nie Sekretärin.“ „Und Hartz IV?“, frage ich. Ute verzieht das Gesicht: „Ich will nicht als Bittsteller aufs Amt.“ „Da hilft nur Wodka!“, sagt Irina und füllt die Gläser. Wir trinken. Auf die Gesundheit, auf die Zukunft und auf ein langes Leben! LEA STREISAND