Mark-Stefan Tietze
: Flagg mich nicht an!

Als ich kürzlich das Haus verließ, schlug mir ein warmer Luftwiderstand entgegen, der bereits nach mittäglicher Schwüle und hochsommerlichem Schweiß roch. Ich stellte mich just darauf ein, den Tag in süßer Lethargie zu verdämmern, entweder zu Hause hinter herabgelassenen Jalousien oder im Jachtclub bei mehreren Partien Bridge, als ich um die Straßenecke bog und mich der Anblick wie ein Schlag traf – oder vielmehr wie ein 9-Millimeter-Projektil mitten in die Stirn!

Dieses Teilstück der benachbarten Einkaufsstraße, auf die ich einbog, gilt als Partymeile, auf der in diesen Tagen der Fußball-EM auch öffentlich ferngesehen wird. Daher hatten mehrere hintereinanderliegende Gaststätten ihre Biergärten jenseits des Bürgersteigs für die kommenden Runden mit riesigen Mengen von Wimpeln und Fläggchen in Schwarz-Rot-Gelb verziert. Wohl um die vielzitierten positiven Emotionen und den Durst ihrer Gäste anzuheizen. Ich schluckte heftig.

Und musste gestehen: So etwas Schreckliches hatte ich schon lange nicht mehr gesehen! Die kleinen Flaggen hingen zu Dutzenden unter den Sonnenschirmen wie in einer DVU-Werbung der Neunzigerjahre. Überwiegend seitlich angebracht wirkten sie wie falsch sortierte Nationalfarben eines besonders tristen Teils von Belgien. Das dominierende Schwarz und die bürokratisch gleichförmige Hängung, die unangenehm an Deutschlands Ruf erinnerte, vervielfachten den Trübsinn. Um mich nicht anzustecken, wechselte ich die Straßenseite und versuchte, das Erlebte zu verdrängen.

Das Trauma kam jedoch in den Folgestunden immer wieder hoch. Liebe Freunde redeten mir gut zu, um mich zu beruhigen. In anderen Ländern sei ein solcher Overkill von patriotischem Kitsch ganz normal. Meine krankhafte Überempfindlichkeit verdankte ich gewiss dem ungeklärten, ja ungesunden Verhältnis meines linksalternativen Milieus zur Nation und ihren Wahrzeichen. Ob ich überhaupt ein Demokrat sei? Ob ich die Liebe zu den Symbolen von Freiheit und Rechtsstaat vollständig den Rechten überlassen wolle?

Keineswegs, wand ich mich. Es sei doch nur so, dass die deutschen Nationalfarben in ihrer Kombination und Symbolik eine besonders dreiste ästhetische Zumutung darstellten. Das finstere Schwarz der Vergangenheit und das grelle Gelb, das angeblich die güldene Zukunft versinnbildliche, seien doch die Wespenwarnfarben! Sie sollten Alarmsignal für alle anderen Nationen sein, ein Absperrband, redete ich mich in Rage, am besten zur Grenzmarkierung verwendet, wenn es nicht ohnehin vom vielsagenden Blutrot durchbrochen würde!

Zu welchem ich mir dann jede Erläuterung ersparte, weil schon klar war, dass ich die nächsten Spiele der deutschen Nationalmannschaft für mich allein schauen konnte. Die Freunde waren davongestoben. Aber das kommt heraus, wenn man mich in einer schwachen Stunde dumm von der Seite anflaggt.