Ausgehen und rumstehen von Katja Kollmann: Unverfälschtes Jodeln in der EM-freien Zone
Wo ist in dieser Stadt noch eine fußballfreie Zone?“, frage ich mich und lande im EM-freien „safe space“ Silent Green. Zeitgleich zum Achtelfinalspiel der DFB-Elf geht es hier um „Frei begehren – Was ist selbstbestimmter Sex?“ mit Kim de l'Horizon auf dem Podium.
Ich bin schon am Nachmittag da. Plakate schreien mir das Motto des Philosophie-Festivals entgegen: „Was heißt hier Freiheit?“ Das Wort „hier“ irritiert mich irgendwie in dieser Fragestellung. Mir ist nicht ganz klar: „Ist das nun Betonung oder Relativierung?“
Nachdenklich gehe ich die Rampe zum Kühlraum des einstigen Krematoriums hinunter. Ich sehe Peter Sloterdijk und setze mich auf den letzten freien Platz.
Die folgenden neunzig Minuten sind lang und kurz zugleich. Kurz, weil Sloterdijk mit witzigen Wortkreationen überrascht und super anschaulich über die Genese des kollektiven bzw. individuellen Freiheitsbegriffs referiert. Lang, weil ich eine Energiezufuhr brauche, aber Angst habe, die Andacht, die im Raum herrscht, durch mein schnödes Öffnen der Buttermilchpackung zu stören. Ist schon eine ziemlich hierarchie-aufgeladene Veranstaltung, finde ich, denn Dialog zwischen „oben und unten“ ist nicht vorgesehen in diesem achtteiligen Marathon eines gepflegten Gesprächs mit Tiefgang.
In der ehemaligen Urnenhalle sitzen SZ-Kolumnist Heribert Prantl und der Historiker Per Leo. Nicht jeder im Raum kann die Nüchternheit, mit der Leo Aufstieg und Wandlung der AfD analysiert, ertragen und macht seinem Unwohlsein mit Zwischenrufen Luft. Ich liege noch ein bisschen im Silent-Green-Gras, lasse die wohltuend stringente Per-Leo-Argumentation nachwirken und nehme dann die S-Bahn vom Wedding bis zur Greifswalder Straße.
Der EM-freie Rettungsanker ist hier die Schaubude. „Ich möchte auch Gegenstands-Erinnerungshelferin werden“, schreit es in mir, als sich Puppenspielerin Josephine Hock so vorstellt und einen Teddybären vor sich hat, der uns mitnimmt in die Schlüterstraße, in der er mit Irene während der NS-Zeit wohnte. „Bär“ ist umgeben von einer Schattentheater-Familie, denn nur noch er „ist am Leben“.
Die berührendste Schattentheaterfigur ist ein Schaukelstuhl, so klein wie ein Playmobil-Männchen. Das Stühlchen steht für die Oma der Familie, die deportiert wurde. „Bär“ macht sich Vorwürfe, sie damals nicht beschützt zu haben. In absoluter Stille verharrt sein kinderhandgroßer Kopf vor dem Schaukelstuhl. Dann neigt er sich langsam über das Stühlchen. Es ist ein magischer Moment. Für mich ist es die Symbiose von Verneigung und Umarmung.
Auch im Pflegeheim in der Kreuzberger Fidicinstraße gibt es wichtigere Ereignisse als die EM: die neue Inszenierung vom hauseigenen Theater-Ensemble Papillons. Magie entsteht hier durch die Leichtigkeit, mit der Tod als Übergang in eine andere Welt thematisiert wird.
Die Kinder und die dementen HeimbewohnerInnen arbeiten zusammen an der erlebbaren Langsamkeit. Das Zuschauerinnenauge hat Zeit zur Betrachtung und genießt. Brautkleider passen sich behutsam an den Körper an, Baskenmützen landen auf wallendem weißen Haar. Jemand holt die Internationale aus den Tiefen der Erinnerung hervor und ein anderer eine Rede über das Kiffen.
Und auf einmal ertönt aus der „Empore“ des Mehrzweckraums ein stärker werdendes Jodeln. Mein bayerisch sozialisiertes Herz geht auf. So ein reines, unverfälschtes Jodeln habe ich schon lange nicht mehr gehört! In dieser Übergangszone könnte ich jetzt bleiben. Weit weg vom Kollektivtaumel EM.
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