„Schlafen“ von Theresia Enzensberger: Die Schlaflosigkeitsveteranin
Über ihre eigenen schlaflosen Nächte und wie Schlaf und Kapitalismus zusammenhängen schreibt Theresia Enzensberger in einem neuen Essay.
Es gibt zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die schlafen können, und diejenigen, die es nicht können, schreibt die französische Schriftstellerin Marie Darrieussecq in ihrem Buch „Sleepless“. Theresia Enzensberger gehört zur zweiten Kategorie. Sie hat ein Buch über ihre Schlaflosigkeit geschrieben, das als Teil einer neuen Reihe bei Hanser erscheint, in der sich Autor*innen wie Elke Heidenreich oder Daniel Schreiber mit den „zehn wichtigsten Themen des Lebens“ auseinandersetzen.
Theresia Enzensberger hat Phasen, in denen sie gut schlafen kann, denen unweigerlich eine insomnische Phase folgt. In diesen Nächten wird sie von der Frage gejagt: „Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?“ Sie ist zur „Schlaflosigkeitsveteranin“ geworden, ohne auf den Wecker zu schauen, weiß sie durch nächtelanges Trainieren der inneren Uhr genau, wie viel Zeit im Dunkeln vergangen ist. Sie weiß, dass der zweite Tag ohne Schlaf problemlos zu überstehen ist, während an Tag vier nichts mehr geht.
Die Kapitel sind nach den einzelnen Schlafphasen benannt und variieren in Form und Länge entsprechend. Das kurze Einstiegskapitel gilt der Einschlafphase, ein anderer, politischer Essay dem leichten Schlaf – der Phase, in der Zähneknirschen auftritt –, zum Tiefschlaf lässt sie assoziativ die Gedanken über den Schlaf in Kunst und Popkultur schweifen und endet mit einer ins Unheimliche abgleitende Kurzgeschichte im Traumschlaf.
Theresia Enzensberger: „Schlafen. Ein philosophischer Streifzug durch die Nacht und eine persönliche Erkundung der Schlaflosigkeit“. Hanser Berlin 2024, 112 Seiten, 20 Euro
Während der Stil zu Beginn noch an eine wissenschaftliche Arbeit erinnert, wird er immer persönlicher und fragmentarischer.
Von der Norm abweichen
Im Kapitalismus, so Enzensberger, wird der Schlaf widersprüchlich bewertet. Einerseits kann aus ihm kein Profit geschlagen werden: Wer schläft, kann in dieser Zeit nicht arbeiten. Andererseits braucht der Mensch eine gewisse Menge Schlaf, um seine Arbeitskraft zu regenerieren.
Da bleibt nur die Möglichkeit, den Schlaf so weit es geht zu normieren (sechs bis acht Stunden in der Nacht, ohne Unterbrechung) und jede Abweichung davon abzuwerten, ja sogar als krankhaft abzustempeln. Die Schlafgewohnheiten sind moralisch aufgeladen: „Wer zu lang oder am Nachmittag schläft, gilt als faul und dekadent; auszuschlafen ist ein unerhörter Luxus, den man sich erarbeiten muss.“
Aus der Pathologisierung der Normabweichung hat sich ein neuer Markt gebildet: von Meditations-Apps bis zu Gewichtsdecken – der Schlaf muss optimiert werden. So wird dem Individuum die Verantwortung für die eigene Schlafqualität und die Schuld bei einer Schlafstörung zugeschoben. Schlaf wird, wie Krankheit, als Schwäche stigmatisiert und ab einer gewissen Dauer als Folge mangelnder Disziplin angesehen.
Das kann etwas Subversives haben: Enzensberger zitiert die Philosophin Eva von Redecker, die den Schlaf, der nicht der Reproduktion der Arbeitskraft dient, als Ausdruck „erfüllter, herrschaftsloser Zeit“ sieht.
Insomnie überall
Wenn man einmal anfängt, in der Literatur nach Schlaflosigkeit zu suchen, findet man sie überall, als wäre Insomnie die Berufskrankheit der Schriftsteller*innen. In zeitgenössischen Berichten über Insomnie beobachtet Enzensberger eine literarische Dramaturgie: eine Heldin, die auf Widrigkeiten stößt und eine innere Entwicklung durchmacht, die schließlich dazu führt, dass sie ihre Schlaflosigkeit überwindet.
Damit könne sie nicht dienen, schreibt Enzensberger. Ihr Buch bietet weder eine Lösung noch ein Happy End. Das macht das Buch vor allem angenehm ehrlich.
Theresia Enzensberger ist, wenn überhaupt, eine realistische Heldin: Sie verzichtet erst ab 17 Uhr auf Kaffee und schafft es nicht immer, vor dem Schlafengehen ihr Handy wegzulegen, wie es in Ratgebern dringend empfohlen wird. Wer sich in der aktuellen Gegenwartsliteratur umsieht, kann eine Fülle von Schlafproblemen entdecken. Ob Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, in dem sich eine Frau entscheidet, mithilfe von Tabletten ein Jahr lang durchzuschlafen, oder Samantha Harveys Memoir „Das Jahr ohne Schlaf“, in dem sie autobiografisch ihre eigene Schlaflosigkeit verarbeitet.
Enzensbergers Buch lässt sich in kein Genre pressen, es ist weder wissenschaftlicher Text noch Selbsthilfebuch oder reines Memoir. Vielmehr ist es eine Sammlung von Gedanken, Studien und Erfahrungen, die zwar niemandem zum Schlaf verhilft, aber immerhin dafür sorgen kann, dass die Lesenden sich in schlaflosen Nächten weniger allein fühlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod