piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Wolf und die sieben Geißlein

JAGDSZENEN In „The Grey“ von Joe Carnahan treffen Überlebende eines Flugzeugabsturzes in der Eislandschaft von Alaska auf ein Rudel von Wölfen, die ihr Revier bedroht sehen

Das Außergewöhnliche an „The Grey“ ist, dass er nicht der Logik des Genres, sondern jener der Situation folgt

VON WILFRIED HIPPEN

Der Titelheld bleibt meist unsichtbar. Der Graue umschleicht die kleine Gruppe von Männern, die in sein Revier eingedrungen sind. Diese sehen ihn und die anderen Wölfe nur dann, wenn es zu spät ist. Doch sie hören sie ständig, und das Sounddesign dieses Films ist mit seinem Heulen, Grollen, Knurren und den Beißgeräuschen so beängstigend, dass man sich statt der Augen oft lieber die Ohren zuhalten möchte.

Jack London hat solche Geschichten geschrieben: Von Männern in eisigen Landschaften, die von Wölfen bedroht, gejagt und angegriffen werden. Eigentlich ist das Genre längst aus der Mode gekommen, doch Regisseur Joe Carnahan und Drehbuchautor Ian Mackenzie Jeffers, auf dessen Kurzgeschichte mit dem ebenfalls schönen Titel „Ghost Walker“ der Film basiert, haben sich große Mühe gegeben, den altgedienten Plot im hier und jetzt zu verankern. Was früher der Goldrausch war, ist heute das Ölgeschäft, und so findet sich eine Gruppe von rauen Männern auf einer Bohrstation im tiefsten, winterlichen Alaska. „Männer, untauglich für die Menschheit“ nennt sie John Ottway, und er zählt sich selber ohne Illusionen auch dazu. Er ist als Jäger engagiert, der die Arbeiter vor angreifenden Tieren wie Bären und Wölfen schützen soll. Ein Profi für das Überleben in der Wildnis also, und als solcher hat er noch die besten Chancen, als sich sieben der Ölarbeiter nach einem Flugzeugsturz (auch hier klingt das Sounddesign so fürchterlich, dass es eines Oscars würdig ist) in den Trümmern, neben Leichen und unter Wölfen wiederfinden. Schnell wird klar, dass die Menschen mit kaputter oder wirkungsloser Technologie den Tieren heillos unterlegen sind. Ottway findet brillante Verteidigungsmittel und Strategien, aber auch die Wölfe sind schlau und sie sind viele und sie kennen das Terrain.

Das Außergewöhnliche an „The Grey“ ist, dass er nicht der Logik des Genres, sondern jener der Situation folgt. Die Gruppe von Überlebenden wird zwar langsam dezimiert, und jede Figur hat vor ihrem Abgang ihren großen Auftritt, aber man wartet umsonst auf die beruhigend tröstlichen Plotwendungen, die den Konventionen dieser Art von Abenteuerfilmen entsprechen. Stattdessen entschleunigt Carnahan konsequent, arbeitet viel mit Stimmungen, der Landschaft und dem Kontrast zwischen der Dunkelheit und dem gleißenden Schnee. Abgesehen von ein paar Szenen, in denen angreifende Tiere als animierte Modelle erkennbar sind, ist dies ein zumindest sehr realistisch wirkender Actionfilm. Keine übermenschlichen Stunts, keine Kampfkünste, keine Waffen – stattdessen haben sich die Filmemacher genau überlegt, wie sich solch eine Katastrophe entwickeln könnte und wie sowohl die Wölfe wie auch die Menschen reagieren würden. Nur am Anfang scheint jeder von ihnen einem Klischee zu entsprechen (der gutmütige Afroamerikaner, der intellektuelle Brillenträger, der Witzbold, der aggressive Einzelkämpfer usw.), aber mit einem für diese Art von Filmen erstaunlichen Feingefühl lässt Carnahan sie alle zu komplexen Persönlichkeiten entwickeln. Jeder von ihnen wird zu seinem Äußersten getrieben und dabei stößt der Film in existentielle Tiefen, die den Vergleich mit einem Klassiker wie „Lohn der Angst“ von Henri-George Clouzot nicht zu überzogen klingen lassen.

Der 60-jährige Liam Neeson ist inzwischen fast schon zu alt für diese Art von Filmen, aber auch er spielt hier ja einen grauen Leitwolf, und er gibt der Rolle die nötige Schwere. Ottways Traumvisionen, in denen er sich mit seiner verstorbenen Frau in einem warmen, sonnenbeschienenen Bett wiederfindet, wo sie ihm sagt, dass er keine Angst haben brauche, sind ein wenig zu kitschig geraten und eine der wenigen Schwächen des Films. Carnahan wollte wohl unbedingt zumindest eine Frau in seinen Film einbauen, dabei wäre es besser gewesen, wenn er auch hier konsequent geblieben wäre und bis zum bitteren Ende nur von Menschen und Wölfen erzählt hätte.