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Archiv-Artikel

Mit kleinen Schritten in die Geschichte

Ein Vierteljahr vor dem Mauerfall 1989 ging an der österreichisch-ungarischen Grenze bereits der Eiserne Vorhang auf. Das Gedenken an dieses historische Ereignis geriet eher bemüht

Paneuropäisches Picknick

■  Das Picknick: Das Paneuropäische Picknick war eine Friedensdemonstration in Sopron am Eisernen Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze. Am 19. August 1989 sollte dabei mit Zustimmung beider Staaten ein Tor im Grenzzaun an der alten Pressburger Landstraße zwischen Sankt Margarethen im Burgenland und Sopronkőhida in Ungarn für kurze Zeit geöffnet werden.

■ Die Initiatoren: Auf westlicher Seite die Paneuropa-Union, die älteste europäische Einigungsbewegung. Präsident von 1973 bis 2004 und auch 1989 in Sopron vor Ort war der ehemalige CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg. Bereits kurz zuvor, am 27 Juni 1989, hatten der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn symbolisch den Stacheldraht unweit von Sopron zerschnitten.

AUS SOPRON HEIDE PLATEN

Das Café Rendezvous gibt es noch am Innenstadtring von Sopron an der Westgrenze Ungarns. Dort hatte vor zwanzig Jahren am 18. August, dem Vorabend des Paneuropäischen Picknicks, eine Gruppe von Motorradfahrern aus Norddeutschland gesessen. Sie waren eigentlich zum großen Bikertreffen in die Kleinstadt gekommen. Die Geschichte von dem jungen Paar aus der DDR aber rührte sie an. Fliehen wollten die beiden, aber auf keinen Fall ohne ihre geliebte, selbst zusammengeschraubte Maschine. Nach dem ungefähr dritten Bier reifte die Idee: abwarten, bis es Nacht wird! Im Wald vor dem Grenzübergang wechselte ein bundesrepublikanisches Nummernschild das Motorrad. Vorne an der MZ wurde es angeschraubt. Dann traten die Wessis aufs Gas, ein großer Pulk, in dessen Mitte geschützt die Zonis fuhren. Kurz vorm Schlagbaum stoppte der Konvoi. Aus seinem Zentrum heraus schoss die MZ mit Vollgas durch den halboffenen Schlagbaum. Das Paar war „drüben“ in Österreich, die Begleiter gaben ebenfalls Gas, wendeten und donnerten zurück in die Dunkelheit, zurück nach Sopron. Das Nummernschild meldeten sie am nächsten Tag ordnungsgemäß als gestohlen.

Es sind die „kleinen Schritte vieler mutiger Menschen“, wird 20 Jahre später Bundeskanzlerin Angela Merkel am späten Nachmittag des 19. August 2009 während der Gedenkveranstaltung sagen. Die westdeutschen Biker handelten jedenfalls damals wie viele andere, gleich welcher politischen Überzeugung. Sie wollten einfach nur helfen. Die Weltpolitik hatten sie nicht im Kopf. Der 20. Jahrestag am Grenzübergang Piuszpuszta bei Sopron, jenem Ort, an dem damals zum ersten Mal der Eiserne Vorhang für nur wenige Stunden durchlässig wurde, war eine hochoffizielle Veranstaltung.

Das als Volksfest geplante Jubiläum gedieh zum Hochsicherheitsevent. Sicherheitskräfte sperrten weiträumig ab, verbannten die Journalisten auf Stehplätze, auf baumloser, sonnenheißer Fläche. Nebenan schwitzten die Ehrengäste auf Plastikstühlen. Rund tausend Menschen waren gekommen. Politiker, Security, geladene Gäste en masse. Die Bevölkerung durfte sich, eher spärlich vertreten, am Rande hinter den gelben Absperrbändern drängen. Eine Handvoll der rund 700 Flüchtlinge, die damals das Paneuropäische Picknick zur Flucht nutzten, kam zum Fest. Und kaum zum Luftholen. Wer sich von ihnen zu erkennen gab, wurde von Kameras und Mikrofonen bestürmt und durch die Medien gereicht wie ein Wanderpokal.

Misstrauen und Gerüchte

P. will davon nichts wissen, mag seinen Namen nicht nennen. Damals war er 22 Jahre alt und suchte als Ungarnurlauber eine Gelegenheit zur Flucht. Er erinnert sich an die Spannung in den Lagern, das Misstrauen, die Gerüchte. Einmal verließ er sich auf ein bundesdeutsches Boulevardblatt, das über Festnahmen, Schüsse, aber auch über gelungene Fluchten an der ein oder anderen Stelle berichtete. Er versuchte es und wurde, eine Woche vor dem 19. August, erwischt, eingesperrt, wieder laufengelassen.

Irgendwie hatte er durch Zufall von dem Picknick gehört und etwas geahnt: „Es lag etwas in der Luft.“ Schon Stunden vorher war Paul zum Grenzübergang gelaufen, an den die kleinen Flugblätter der Organisatoren wenige Tage zuvor eingeladen hatten. Er war einer der Ersten, die durch den Zaun schlüpften. Seither hat er seine Träume verwirklicht. Nichts als reisen wollte er. In den Jahren nach der Flucht hat er sich ganz Westeuropa angesehen, vor allem Griechenland. 1991 und 1995 ist er als Gast wieder nach Ungarn gekommen, „weil ich die Menschen mag“. Den Rummel mag er nicht.

Der ehemals verschlafene Grenzübergang ist einem Gedenkpark gewichen, dessen Charme sich nicht zwischen Campingplatz und Mini-Disneyland entscheiden kann. Nichts ist stimmig. Ein Holzpavillon mit fünf Türmen, Gedenkstelen, Zierbrunnen, symbolische Baumanpflanzungen, rundherum weiträumig verstreut. Das am Gedenktag eingeweihte weiße Steinmonument streift die martialische Kitschgrenze nicht nur. Da tauchen aus dem Marmor Figuren auf, DDRler auf der Flucht, rennend, wie aus einem Keller hervorbrechend, von unten nach oben. Hinten erschließt sich gemeißelt der Sinn der Skulptur, der auch von vorn nicht zu übersehen ist: „Am 19. August 1989 öffnete ein unterdrücktes Volk die Tore des Gefängnisses, um einem anderen unterjochten Volk zur Freiheit zur verhelfen.“

Die Besucher aus dem kleinen österreichischen Grenzort St. Margarethen, die damals als Erste die Flüchtlinge aufnahmen, wollen Angela Merkel sehen und fotografieren. Sie kommen nicht an der Security vorbei. Aber sie kennen sich aus im Grenzgebiet. Durch das Unterholz gelangen sie hinter dem Rücken der Aufseher grüppchenweise in eklatant umgekehrter Richtung von West nach Ost heimlich zum Veranstaltungsort.

Portemonnaie geklaut

Maria Heckerast erinnert sich gut. Sie stand an dem Holztor, das damals geöffnet wurde. Sie hat den Menschenansturm gesehen, Schreie gehört, Kinder, die ihre Eltern im Getümmel verloren hatten, weinten. Eines, das zurückblieb, hat ein Soproner Pfarrer eingesammelt. Er sorgte für die Familienzusammenführung. Sie hat auch die jungen Leute gesehen, die, ebenfalls samt Motorrad, von den Picknickteilnehmern über die Demarkationslinie gezogen und geschoben wurden. Damals wussten die kaum, wie ihnen geschah, merkten nicht, dass alle Kameras auf sie gerichtet waren. Auf dem Waldweg Richtung St. Margarethen habe die junge Frau gefragt: „Wo sind wir?“ „In Freiheit“, habe ihr Freund geantwortet. Wenige Tage später saßen die beiden im Zug auf den Weg ins hessische Auffanglager in Gießen. Leicht desillusioniert, in Wien war ihnen das Portemonnaie gestohlen worden.

Auch Maria Heckerast hat sich damals getreu dem Veranstaltungsmotto „Abreißen und mitnehmen“ ein kleines Sträußchen Stacheldraht vom Grenzzaun abgeknipst und aufbewahrt. Sie weiß, dass die 700, die damals das Tor passierten, nicht die Einzigen waren, die in St. Margarethen ankamen. Dutzende verschmutzte und erschöpfte Flüchtlinge hatten dem Picknick nicht getraut und sich parallel durch den Wald geschlagen, waren dort herumgeirrt. Sie aber kennt jeden Pfad, ist mit der Grenze groß geworden und erinnert sich auch noch, dass die nicht immer so hermetisch abgeriegelt war. Ackerland österreichischer Weinbauern lag in Ungarn. Vor dem Ungarnaufstand ist sie mit dem Vater noch auf dem Spritzwagen zum Düngen der Felder der Familie über die Grenze gefahren. Stoffe für die Kleider einer Doppelhochzeit im Dorf wanderten hin und her, von der Schneiderin zur Anprobe und zurück. Von 1956 an ging das nicht mehr.

Als die ersten Offiziellen des Jahrestages, ein Defilee schwarzer Anzüge, eintreffen, kennt sie niemanden. Sie ist ratlos: „Das werden wohl die ungarischen sein.“ Ein richtiges Fest, so wie in den vergangenen Jahren, findet sie, ist das nun wirklich nicht.

Ein bisschen Ascot

Die Gedenkfeier bricht währenddessen immer mehr auseinander. Die örtliche Prominenz füllt den Mittelraum mit einem bisschen Flair aus Ascot, großen Hüten, schicken Seidenkleidern, Sitzplätzen. Die Damen stöckeln über den nagelneuen Rollrasen und sinken, weil der gut gewässert ist, mit ihren Highheels ganz unelegant ein. Getränke gibt es nicht, die Bundeskanzlerin lässt auf sich warten. 15, 16, 17 Uhr, Stunden der Braterei. Schatten spenden nur die von Weitsichtigen mitgebrachten Regenschirme. Die Schwärme von Schmetterlingen, Kohlweißlinge meist, haben es besser. Sie saugen Feuchtigkeit aus dem Schlamm des Rollrasens.

Die Damen stöckeln über den Rollrasen und sinken mit ihren Highheels ganz unelegant ein. Getränke gibt es nicht, die Bundeskanzlerin lässt auf sich warten

Erinnerung ist schwer, kommt aber dennoch am Rande vor. Eine Videowand zeigt Filmausschnitte von damals. Zu hören ist nichts. Die Tonlosigkeit passt. Der Zug der Menschen zum Ort des Picknicks 1989 war ein Schweigemarsch. Still waren sie, die Frauen und Männer aus der DDR, die ihre Kinder auf den Schultern trugen, durch die Wiesen und Felder, im Gepäck nur kleine Taschen und Rucksäcke und Hoffnung. Lautlos marschierten sie. Es wurde nur geflüstert. Nachdem die Ersten das Tor gestürmt hatten, standen andere verunsichert vor den ungarischen Grenzern, die, eher symbolisch, immer noch Pässe kontrollierten. Der Sturm brach von österreichischer Seite über sie herein. Das Picknick geriet seinerzeit zur fast anarchischen Veranstaltung, die die vier ungarischen Grenzer einfach hinwegfegte. Reiter, Pferdekutschen, Schützenbrüder, Fanfarenzüge stürmten das Tor von West nach Ost. Viele der DDRler standen am Rande und trauten sich kaum, einen Fuß vor den anderen durch den weit offenen Übergang zu setzen. Sie mussten nachgerade angestoßen werden: „Jetzt geht doch endlich!“

Dünner Draht

Nie sah aber die ungarische Grenze so martialisch aus wie der antifaschistische Schutzwall der DDR. Der Zaun war, weiß Joseph S., durchlässig, wenn man Grenzer auf beiden Seiten kannte. Der dünne Draht, der eher an Wildschutzzäune gemahnte, die wenigen Stacheldrahtrollen, die morschen, versteckten Tore waren durchaus passierbar für Verwandte und getrennte Nachbarn. Probleme, erzählt er, machten eher die Touristen im österreichischen Teil des Burgenlandes, die sich regelmäßig bei Waldspaziergängen auf die ungarische Seite verirrten, weil sie den Zaun nicht als Staatsgrenze erkannten. Franz Artmer, ebenfalls aus St. Margarethen, trägt das T-Shirt des örtlichen Reitvereins. Seine Kameraden stürmten 1989 die Grenze hoch zu Ross, er kam mit dem Fahrrad. Diesmal ist er wie seine Nachbarn auch vorbei an den neuen Wachtposten mit den kurzen Haaren und den Ohrsteckern durch das Unterholz gebrochen. Den Krückstock hat er geschwenkt wie eine Machete. Zweige und Blätter kleben ihm noch im Haar. Unwürdig findet er das.

Ihm gefällt nur die Videowand, denn: „Das habe ich gesehen!“ Von den vielen offiziellen Reden hält er nichts. Historisches Ereignis? Immer wieder wird das gesagt an diesem Tag. Jeder will daran teilhaben und sich profilieren, meint er. Politiker aller Couleur, Kirchenmänner, Bischöfe, Nationalisten. Das Picknick damals habe ihm viel besser gefallen. Die Versorgung der Menschen war 1989 auch nicht die Sache der damaligen Veranstalter. Schon früh am Vormittag, längst vor dem offiziellen Beginn, waren unauffällige Kleintransporter durch Sopron gerollt, besetzt mit Männern in Tarnanzügen ohne Hoheitsembleme. Der Konvoi, der damals fast aussah wie Neonazis, die sich an die Veranstaltung des Otto von Habsburg anhängen wollten, entpuppte sich als die ungarische Armee, die wenige Kilometer vom Grenzübergang die Veranstaltung nicht etwa überwachte, sondern mit Zelten, Bänken und transportabler Suppenküche die kulinarische Infrastruktur des Picknicks stellte. Da gab es, sagt Artmer, Essen, Getränke reichlich. „Und Schatten!“

Franz Artmer hat genug. Er will nur noch ein Foto von der Kanzlerin. Die kommt, verzichtet schnell auf die Niederlegung eines Blumenstraußes an dem neu eingeweihten Denkmal und fasst sich kurz. Sie dankt den Ungarn „im Namen aller Deutschen“ und sie sagt, dass „gute Ideen“, auch „ganz ungewöhnliche Ideen“ ein „großer Beitrag zur Geschichte sein können“: „Dieses Grenztor konnte nie wieder geschlossen werden.“ Sie freue sich, sagt Merkel dann knapp, auf die Begegnung mit den DDRlern, „die die Gunst der Stunde genutzt haben“. Dafür nimmt sie sich Zeit, das Gespräch allerdings geht dann völlig unter im Medienrummel. Am Rande gibt der bayerische Exministerpräsident Beckstein Autogramme. Die nationalistischen Siebenbürger und Deutsch-Ungarn mögen ihn.

Zurück nach Sopron. Was hat sich verändert seit 1989? Nicht viel und doch einiges. Die meist einstöckigen, schmucken Barockhäuser waren immer liebevoll gepflegt, sind vielleicht heute etwas besser verputzt, neu gestrichen, pastellfarben. Die Schattenwährung Dollar ist jetzt abgelöst durch den Euro, die 1-Forint-Münze sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. „Die passen sogar“, hat eine Verkäuferin ausprobiert, „in die Einkaufswagen im Westen.“ Und ein neuer florierender Geschäftszweig ist entstanden, dicht hinter der ungarisch-österreichischen Grenze. „Überall, wo es etwas zu essen gibt“, sagt der ortskundige Taxifahrer, der die Kunden täglich dorthin chauffiert, „gibt es auch eine Zahnarztpraxis oder einen Schönheitschirurgen. Fast jedes Hotel hat das jetzt.“ Kronen, Implantate, Fettabsaugen, Korrekturen aller möglichen Körperteile werden inflationär billig angeboten.