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Der große Preis der neuen Klänge

Angst vor Neuer Musik? Der Bremer „Realtime“-Verein versucht, alle für heutige Klangkunst zu begeistern. Und vergibt einen hochdotierten Preis für Gegenwartskompositionen

Von Jens Fischer

Schluss mit Klassikkonzerten und ihren vergreisten Rezeptionsarten. Die Bremer Pianistin Claudia Janet Birkholz will stattdessen Musik aus der Jetzzeit populär machen, die sich an die Gegenwart wendet. Musik von noch lebenden, experimentierfreudigen Komponist:innen. Die verhandele aktuelle gesellschaftliche Themen und beziehe die technologischen wie auch medialen Entwicklungen unserer Zeit mit ein. Historisch korrekt wäre der Begriff „zeitgenössische klassische Musik“, so Birkholz. Denn aus der klassischen Tradition leitet sie sich ab und erweitert deren klangsprachlichen Mittel. Sie selbst hat dafür den Ausdruck „Realtime-Musik“ geprägt.

„Die meisten Menschen kennen diese Entwicklung nicht, haben aber Vorurteile“, sagt Birkholz. „Sie denken an den Schocker mit der Zwölf-Ton-Musik, als plötzlich alles schräg klang.“ Das sei aber „lange her“, so Birkholz. „Die Vielfältigkeit und Lebendigkeit heutiger Kompositionen ist sehr groß.“ Um das zu fördern, hat sie schon 2012 zum 100. Geburtstag von John Cage in der Bremer Kunsthalle den Verein „Realtime – Forum Neue Musik“ gegründet. Heute zählt er 48 Mitglieder.

Mit deren Beiträgen sind die Bildungsarbeit, Konzerte, Festivals, Familienformate, Lectures, interkulturellen Projekte und auch das Jugendensemble „Smusic21“ nicht zu finanzieren. Stiftungsgelder, Spenden, Sponsoring und Fördermittel müssen eingeworben werden. „Land und Stadt Bremen haben unsere Anträge in den letzten Jahren aber leider nicht bedacht“, bedauert die Vereinsvorsitzende.

Allerdings ist auch ihr Ehemann Gerd Köster, Coach für Unternehmensführung, finanziell mit an Bord. Er spendiert beispielsweise einen nach ihm benannten und mit 30.000 Euro für die Sparte nach eigenen Angaben bestdotierten Preis. Verliehen wird er im Rahmen des seit 2021 alle zwei Jahre ausgetragenen Realtime-Festivals: Noch bis 31. Mai 2024 ist es möglich, sich mit einem interdisziplinären Aufführungskonzept für Neue Musik zu bewerben. Die Weltpremiere soll dann bei der 2025er-Auflage stattfinden, so wie „Swangate“ vom Ensemble Cocaine Hippos 2023 seine Uraufführung erlebt hatte. Das war szenisch-musikalisch eine vogelwilde Mischung aus Hitchcock, der Popgruppe M.I.A., dem französischen Vogelstimmenkomponist Olivier Messiaen und, natürlich, Piotr Tschaikowsky. „Besonders ausgeflippt ist immer gut“, empfiehlt Birkholz auch den diesjährigen Bewerber*innen.“

„Ich muss von der Expertenpalme runterkommen“

Claudia Janet Birkholz, Pianistin und Realtime-Musik-Prophetin

Birkholz ist seit 1993 Klavier-Dozentin an der Bremer Musikhochschule. Sie weiß, wie Neue Musik Menschen oft befremdet: keine Beats zum Tanzen, keine Harmonien zum Kuscheln, keine Melodien zum Mitsummen. Aber, was stattdessen zu erleben ist, unaufgelöste Dissonanzen, Geräusche, zersplitternde Töne, im Raum bewegte Klänge, lässt sich als Bereicherung empfinden. Und das kann man laut Birkholz lernen: Um das Hören zu schulen, bietet sie Workshops an, um selbst die neuen Klangmöglichkeiten zu erkunden. Im Smusic21-Jugendensemble muss niemand Noten lesen oder ein Instrument spielen können: Auch auf Alltagsgegenständen und mit der Stimme kann Musik gemacht werden. Erwachsene lädt der Verein zu Klangspaziergängen, auf denen ein Audiotherapeut mit dem Diagnosehammer einfach mal Bäume zum Klingen, Pappeln zum Zittern bringt. Birkholz gestaltet Gesprächskonzerte, bei denen sie sich um Musikstücke herum mit Fachleuten aus Kunst und Wissenschaft unterhält, oder moderiert ihre Auftritte, erläutert Hintergründe und gibt spielerisch Einstiegshilfen zum Programm.

„Zugang auf Augenhöhe“, nennt sie das. „Ich muss von der Expertenpalme runterkommen und mich hineinversetzen, was die Zuhörer mitbringen an Erfahrungen und Erwartungen. Ich mache keine intellektuellen Erklärungen.“ Etwa bei Toshio Hosokawas „Nacht Klänge“ kommen erst mal ganz schräge Töne. Dann kommt lange nichts. Dann wird ein einzelner Ton zum Ereignis, der wieder verklingt. „Wenn Zuhörer vorher wissen, dass genau das zur Musik gehört, das Leiserwerden, ist eine ganz neue Sensibilität, eine offene Aufmerksamkeit da.“

Man stoße eine Tür auf und trete in eine Landschaft, die man noch nie erlebt habe. „Nicht werten, nicht fragen, warum folgt jetzt dieses Geräusch diesem Ton, die akustischen Informationen einfach nur um einen herum daddeln lassen, zuhören, staunen, wahrnehmen, offen sein.“ So ein interesseloses Wohlgefallen an klangsinnlichen Phänomenen. „Diese Haltung muss man üben, das ist sicherlich nicht für jeden einfach. Lohnt sich aber.“ Neulich sagte ein älteres Vereinsmitglied nach einem Konzert Neuer Musik: „Heute konnte ich das beinahe zum ersten Mal auch genießen.“ Weiter gehört zur Vermittlungsarbeit die multimediale Präsentation etwa mit Videoprojektionen und Lichtdesign.

Im Anschluss gibt es häufig ein „Meet & Greet“ mit Mu­si­ke­r:in­nen und Komponist:innen. Die dürfen sehr wohl gefragt werden: „Warum spielen Sie so eine anstrengende Musik und nicht was Schönes von Chopin oder Brahms?“ Die beiden findet Birkholz übrigens auch toll. Aber seit Langem meidet sie die Klassiker bei ihren Konzerten. Die habe doch jeder im Programm, „die muss ich nicht auch noch spielen“.

Ausschreibung Köster-Preis, bis 31. 5. Infos: www.realtime-bremen.de

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