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Archiv-Artikel

Die Gespenster der Kulturrevolution

Die chinesische Komponistin Liu Sola ist eine überzeugte Grenzgängerin. Nun bringt sie ihre Freunde aus New Yorks Avantgarde-Szene nach Berlin

Mit chinesischen Instrumenten sucht Liu Sola nach einem modernen Ausdruck

VON DANIEL BAX

„Was soll ich sagen“, seufzt Liu Sola mitten im Gespräch: „Chinesin zu sein ist nicht einfach. Gerade meine Generation hat Erfahrungen gemacht, die für vier Generationen ausreichen würden.“ Da war das Gespräch gerade auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 gekommen, mit dem die Studentenrevolte blutig endete. An jenem Tag war Liu Sola gerade in Memphis, Tennessee, und nahm mit amerikanischen Blues-Musikern einen Song namens „Reborn“ auf: den ersten chinesischen Blues-Song.

Musikalisch gesprochen, hat Liu Sola schon mehr als eine Wiedergeburt erlebt. In die USA war sie, mit einem Stipendium ausgestattet, schon 1987 gegangen. Nach einer Episode in England kehrte sie sechs Jahre später nach New York zurück, um mit dem Dub-Produzenten Bill Laswell zu arbeiten. So lernte sie nach und nach all jene Vertreter der New Yorker Avantgarde-Szene kennen, die sie als musikalische Kuratorin des „In Transit“-Festivals jetzt nach Berlin geladen hat: Den Extrem-Saxofonisten John Zorn, der mit Bill Laswell am Bass ins Haus der Kulturen der Welt kommen wird, den FreeJazz-Posaunisten Roswell Rudd oder die persische Sängerin Sussan Deyhim. „Das sind nicht nur meine Freunde. Sie haben mich auch inspiriert, was ihre Haltung und Herangehensweise angeht“, bekennt Liu Sola.

Man mag die Praxis des HKW fragwürdig finden, die immer gleichen Künstler in wechselnden Funktionen einzuladen, um dem Haus dadurch Profil zu verleihen. Doch im Fall von Liu Sola, die im künstlerischen Beirat des HKW sitzt und schon öfters für Konzerte zu Gast war, ist es ein kleiner Glücksfall: Als Kuratorin ermöglicht sie dem Publikum nun einen intimen Einblick in die New Yorker Avantgarde-Szene. Und als Musikerin zählt sie selbst zu den interessantesten Figuren ihres Landes: Zwischen Rockopern, Elektronik-Experimenten und futuristischem Folk bewegt sich ihr Oeuvre.

Als Kind der Kulturrevolution gehörte Liu Sola einst der ersten Klasse an, die 1977 auf dem Konservatorium aufgenommen wurde, als dieses wieder geöffnet wurde: Zehn Jahre lang war es während der Kulturrevolution geschlossen geblieben. Ihr Vater war ein hochrangiges Parteimitglied, das in Ungnade fiel, ihre Mutter eine Schriftstellerin, die von Mao Tse-tung persönlich kritisiert worden war: Acht Jahre verbrachten die Eltern im Gefängnis, während sich ein Kindermädchen um Liu Sola kümmerte. Über ihre Zeit am Konservatorium schrieb Liu Sola ein Buch, das unverhofft zum Bestseller avancierte. Mit ihrer Geschichte über einen jungen Komponisten und seinem Kampf mit der Gesellschaft und ihren Konventionen traf sie einen Nerv bei ihrer Generation, die sich vom System gegängelt fühlte.

Seitdem hat sich die Situation in China grundlegend geändert: Es ist heute weniger der Staat, der dem künstlerischen Ausdruck enge Grenzen steckt, als der Markt mit seinen Gesetzen. „Was mich beunruhigt, ist, dass die traditionelle Musik allmählich verloren geht“, sagt Liu Sola. „Die traditionellen Musiker stehen entweder im Dienst der Regierung. Oder sie versuchen, ins Popgeschäft zu wechseln, und verschwenden dabei ihr Talent. Es gibt in China einfach zu viel schlechte Popmusik, zu wenig gute“, bedauert sie.

Mit ihrer neuen Gruppe „Liu Sola & Friends“ versucht sie nun, mit traditionellen Instrumenten wie der Laute Pipa oder der Zither Zeng einen zeitgemäßen Ausdruck für das chinesische Erbe zu finden. Dafür studiert sie schamanistische Lieder aus dem alten China, in denen sie Parallelen zu afrikanischer Musik, zu Rock und zur Dance-Musik sieht. Und sie umgibt sich mit einigen der besten Solisten ihres Landes, denen sie einiges an Experimentierfreude abfordert: „Ich möchte nicht, das wir im Stil der westlichen Avantgarde oder der Neuen Musik spielen“, sagt Liu Sola. „Man muss dem Geist der Instrumente gerecht werden.“

Vor zwei Jahren ist Liu Sola, die inzwischen als eine Art Mutter der chinesischen Avantgarde gilt, wieder zurück nach Peking gezogen. „In New York habe ich von John Zorn und Bill Laswell gelernt, wie man Platten produziert. Ich hoffe, etwas von diesem Geist nach China tragen zu können.“ Vor zwei Jahren hat Liu Sola ein eigenes Label gegründet. Ihre Platten werden in China aber über einen großen Verlag vertrieben, weil sie dort vor allem als Autorin bekannt ist: Ein paar Romane und mehrere Bücher über chinesische Musik, Kunst und Design hat sie geschrieben.

Im kommenden Jahr wird Liu Sola für das Programm „China Culture Memory“ am Haus der Kulturen der Welt eine Oper komponieren, die einen Bogen von der chinesischen Revolution in den Dreißigerjahren bis heute schlägt. Sie soll Arbeiten einiger Komponisten integrieren, mit denen Liu Sola einst am Konservatorium studierte und in deren Werk sich die unterschiedlichen Biografien spiegeln. „Viele von ihnen sind heute selbst Professoren, in China oder den USA“, sagt Liu Sola. „Sie waren immens einflussreich und die Ersten, die sich als Komponisten außerhalb Chinas etablieren konnten.“

So schließt sich der Kreis.

Festival „In Transit“ (2.–18. 6.), Konzert Liu Sola & Friends: 5. 6.