Kleine, rhythmische Persönlichkeiten

Sportler oder Couch-Potato? Jeder Meereswurm der Art Platynereis dumerilii hat seinen eigenen Tagesrhythmus. Dabei geht die innere Uhr der Würmer genau gleich

Jeder tickt anders: Würmer im Untersuchungskasten Foto: Birgit Pöhn/Alfred-Wegener- Institut

Von Gernot Knödler

Eule oder Lärche, Sportler oder Couch-Potato – selbst einfache Würmer haben ihren individuellen Lebensstil. Wie eine Studie des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, der Universitäten Wien und Oldenburg sowie der Katholischen Universität Leuwen ergeben hat, tickt die biologische Uhr aller Meereswürmer der Art Platynereis dumerilii zwar gleich. Sie bestimmt aber nicht – oder zumindest nicht allein – deren von Individuum zu Individuum verschiedenen Tagesrhythmus.

Die Studienergebnisse passen zum einen ins Bild der modernen Biologie, die nicht mehr behauptet, dass sich Gene quasi eins zu eins in bestimmten Gestaltungsmerkmalen ausdrücken, sondern komplexe Zusammenhänge festgestellt hat. Zum anderen lassen sich aus den Erkenntnissen Schlüsse für die Biologie und die Medizin ziehen, indem der individuelle Tagesrhythmus von Lebewesen stärker berücksichtigt wird.

Platynereis dumerilii ist ein nur wenige Zentimeter langer Borstenwurm, der in gemäßigten bis tropischen Küstengewässern rund um die Welt vorkommt. Die sich nur langsam verändernde Art nutzen Biologen als Modell­organismus, um die Chronobiologie, also die inneren Uhren, wirbelloser Meereslebewesen zu untersuchen. Dabei war den Biologen aufgefallen, dass schon die jungen Würmer ganz unterschiedlichen Tagesrhythmen folgen. Die „disziplinierten Sportler“ machten jede Nacht zur gleichen Zeit ihre Ausflüge, die Couch-Potatoes dagegen nur unregelmäßig. An diesem Verhalten der individuellen Würmer änderte sich auch bei späteren Beobachtungen nichts: Couch-Potato blieb Couch-Potato.

„Diese Reproduzierbarkeit von individuellen Verhaltensweisen hat uns sehr überrascht“, sagt Kristin Tessmar-Raible, Biologin am Alfred-Wegener-Institut und an der Universität Wien. „Selbst Würmer sind sozusagen kleine rhythmische Persönlichkeiten.“

Um herauszufinden, wie sich diese Verhaltensunterschiede erklären lassen, untersuchten die Forscher die Genaktivität in den Köpfen besonders rhythmischer und besonders arrhyth­mischer Würmer. Dabei stellten sie überrascht fest, dass bei den arrhythmischen Couch-Potatoes fast genauso viele Gene rhythmisch aktiv waren wie bei den getaktet lebenden Würmern.

Dass sich beide Typen trotzdem unterschiedlich verhalten, liegt daran, dass bei ihnen andere Gene aktiv sind: Bei den sich regelmäßig bewegenden Würmern werden vermehrt neurologische, bewegungsrelevante Gene ausgelesen, bei den sich nur ab und zu bewegenden Würmern eher stoffwechselbezogene.

Beide Wurmtypen waren also rhythmisch aktiv – aber mit verschiedenen Dingen beschäftigt: Bei den einen sorgen die Gene für die Ausschüttung von Neurotransmittern, die die Nervenzellen feuern lassen; bei den anderen erzeugen sie Proteine. „Die innere Uhr geht gleich – was sich verändert, ist, welche Gene aktiv sind“, fast es Tessmer-Raible zusammen.

Zwischen den beiden Typen gibt es ein Kontinuum von Ausprägungen, was nach Ansicht der Forscher ein evolutionärer Vorteil sein könnte. Schließlich leben die Würmer als Küstenbewohner in einem Raum, in dem Rhythmen eine besondere Rolle spielen und der zudem lokal stark variiert: Temperaturen, Lichtverhältnisse, Nährstoffangebot – all das verändert sich im Laufe des Tages und von Ort zu Ort. Die Organismen müssen sich darauf einstellen und ihr Verhalten, ihren Stoffwechsel und ihre Gen-Aktivitäten daran anpassen.

„Wenn Würmer schon solche Individualisten sind, dürfte unsere eigene Art da kaum zurückstehen“

Kristin Tessmar-Raible, Biologin am Alfred-Wegener-Institut und an der Uni Wien

Offen ist für die Forscher, wie die inneren Taktgeber von Organismen reagieren, wenn der Mensch die Umwelt verändert, indem er das Klima aufheizt oder mit künstlichem Licht die Nacht zum Tag macht. Die jetzt erforsche Varianz im „Lebensstil“ macht ihnen Hoffnung, dass zumindest einige Tiere auch damit zurecht kommen und so die jeweilige Art retten können.

Die Zusammenhänge, die die Forscher bei Platynereis dumerilii entdeckt haben, dürften auch für den Menschen von Bedeutung sein. Auch wir gehorchen einem inneren täglichen Rhythmus, der von außen nicht unbedingt erkennbar ist. „Spannend sind solche Erkenntnisse deshalb auch für die sogenannte Chronomedizin“, sagt Tessmar-Raible.

In jüngster Zeit versuchten Ärzte verstärkt, die Tagesrhythmen ihrer Patienten bei der Behandlung zu berücksichtigen. Wie bei den Würmern setzen diese sich jedoch aus verschiedenen Komponenten zusammen – vom Verhalten bis zu den Gen-Aktivitäten –, die jeweils unterschiedlich auf Medikamente und deren Timing reagieren könnten. „Insbesondere beim Menschen wird es daher wichtig sein, bei chronomedizinischen Analysen mehrere Ebenen im Auge zu haben“, sagt Tessmar-Raible. „Wenn Würmer schon solche Individualisten sind, dürfte unsere eigene Art da kaum zurückstehen.“