: Die Augen fest geschlossen
BEHÖRDENSKANDAL Das Hamburger Jugendamt ging Hinweisen auf den Missbrauch eines Mädchens viel zu lange nicht nach. Auch gegen eine FDP-Abgeordnete wird ermittelt
■ Der bezirklich organisierte ASD ist ein Teil der Hamburger Jugend- und Familienhilfe. Zwei Todesfälle haben zu einer Diskussion über Lücken im System geführt.
■ Die neun Monate alte Lara-Mia verhungerte 2009, obwohl eine Sozialarbeiterin die Familie noch wenige Tage vor dem Tod des Mädchens besucht hatte. Die Mangelernährung fiel ihr nicht auf.
■ Die elfjährige Chantal starb im Januar 2010 an einer Methadonvergiftung. Das Pflegekind war vom Jugendamt in einer drogenabhängigen Familie untergebracht worden. Der zuständige Bezirksamtschefs musste gehen.
VON MARCO CARINI
Gut zwei Monate nach dem Tod der elfjährigen Chantal gibt es neue schwere Vorwürfe gegen den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in Hamburg. Der taz ist ein Fall bekannt, in dem der ASD offenbar jahrelang die Augen erst fest vor dem sexuellen Missbrauch eines Mädchens verschloss und es dann weiteren Gefahren aussetzte.
Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft, wie ihr Sprecher Gerald Janson der taz bestätigte, gegen sechs Mitarbeiterinnen der Wandsbeker Jugend- und Familienhilfe wegen des Verdachts der „Verletzung der Fürsorge und Erziehungspflicht“. Eine der Beschuldigten ist die Sozialpädagogin Martina Kaesbach, die für die FDP als Abgeordnete in der hamburgischen Bürgerschaft sitzt. Sie ist seit vergangenem Jahr der Amtsvormund des betroffenen Mädchens.
Bislang konnten die Ermittlungen gegen die Politikerin noch unter der Decke gehalten werden. Und der Fall der heute neunjährigen Anna*, der den Ermittlungen zugrunde liegt, würde wohl weiter vertuscht werden, hätte nicht die prominente Hamburger „Society-Reporterin“ Bea Swietczak jetzt Alarm geschlagen. Die Journalistin entdeckte einen vermutlich jahrelangen Missbrauch der jungen Halbpolin und fand heraus, dass dieser dem ASD schon lange bekannt war. Als Reaktion erhielt sie Kontaktverbot zu dem Mädchen, mit dem sie indirekt verwandt ist.
Die unglaubliche Geschichte beginnt, als die siebzehnjährige Maria* über Facebook Kontakt zu Bea Swietczak aufnimmt. Jahrelang haben sich die beiden weitläufig verwandten Frauen nicht mehr gesehen. Sie treffen sich mehrfach, bis irgendwann Marias Freund der Klatschreporterin anvertraut: „Mit Anna stimmt was nicht“, berichtet er über Marias jüngere Halbschwester, „die ist ganz komisch.“
„Für mich war das ein Hilferuf“, sagt Bea Swietczak heute. Sie beschließt, der Familie in ihrer Steilshooper Wohnung einen Besuch abzustatten und trifft auf „ein Bild des Schreckens“. Die siebenjährige Anna sitzt im abgedunkelten Raum vorm Fernseher und fängt an zu kreischen, als das Gerät abgeschaltet wird. Während der weiteren Visite zeigt das Mädchen, das noch einnässt und einkotet „weitere extreme Verhaltensauffälligkeiten“, wie Bea Swietczak berichtet. Doch was die gelernte Pädagogin am meisten schockiert, ist, dass Anna kein eigenes Bett hat. Von Maria erfährt sie, dass das Mädchen stets im Bett der Mutter schläft – auch wenn deren aktueller Freund über Nacht bleibt.
Sofort alarmiert Bea Swietczak das Jugendamt, den sozialpsychiatrischen Dienst und die Polizei. Diese durchsucht schließlich die Wohnung der Mutter und ermittelt auch heute noch gegen sie und ihren Freund „wegen des Verdachts der Vornahme sexueller Handlungen an einem Kind“.
Die alarmierten ASD-Mitarbeiterinnen bedanken sich zunächst überschwänglich bei Bea Swietczak. Man habe, bekommt Bea Swietczak zu hören, von Missständen innerhalb der Familie ja keine Ahnung gehabt, sei nun zum ersten Mal auf die Familie aufmerksam geworden.
Das aber stimmt so nicht. Der taz liegen eidesstattliche Erklärungen und Dokumente vor, dass die Großmutter von Anna und Maria, den ASD Steilshoop schon im Frühjahr 2010 über den Verdacht informiert hat. In der Folge bittet der ASD die Mutter zweimal zum Gesprächstermin und lässt – nachdem diese nicht erscheint – die Vorwürfe auf sich beruhen. Inzwischen hat Bea Swietczak Indizien zusammengetragen, dass Anna schon zuvor von mindestens einem anderen Mann mehrfach missbraucht wurde und der ASD schon viel früher, als von ihm eingeräumt, „an der Familie dran war“. Ohne, dass etwas passierte.
Auch Maria glaubt sich an Kontakt zum Jugendamt zu erinnern. „Da hätte schon früher was passieren müssen, dann wäre es nie soweit gekommen“, sagt die heute 18-Jährige. Doch mit dem Aufdecken des Missbrauchs hört die „lange Liste der Versäumnisse nicht auf“, wie Bea Swietczak kritisiert.
Zwar wird der Mutter das Sorgerecht entzogen und der Pädagogin und FDP-Politikerin Martina Kaesbach die Vormundschaft für Anna übertragen. Sie verantwortet mit, dass Anna, die inzwischen bei einer Übergangs-Pflegemutter wohnt, ihre alte Schule weiter besucht, die nur wenige Meter von ihrer früheren Wohnung entfernt liegt, in der ihre Mutter lebt und ihr mutmaßlicher Missbraucher ein- und ausgeht. Erst als zwei Tanten versuchen, das Kind vor der Schule abzugreifen und vermutlich nach Polen, dem Heimatland der Mutter zu verschleppen, wird das Kind aus der Schule genommen.
Wegen dieser und anderer mutmaßlicher „Verfehlungen“ hat Bea Swietczak Martina Kaesbach und fünf andere ASD-Mitarbeiterinnen wegen der „Verletzung der Fürsorge und Erziehungspflicht“ angezeigt. Seit fünf Monaten ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Die Behörden aber wiegeln ab. So erklärt der Sozial-Dezernent des Bezirksamts Wandsbek, Eric L., in einem der taz vorliegenden Schreiben, er könne „ein pflichtwidriges Verhalten in der Bearbeitung durch den ASD oder durch die Amtsvormünderin... in alledem nicht erkennen“.
Auch der von Bea Swietczak informierten CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Viviane Spethmann gelingt es nicht, Licht in die Sache zu bringen. Eine Anfrage der Politikerin beantwortete die Sozialbehörde ausweichend: „Der Senat ist im Hinblick auf den Sozialdatenschutz nach Sozialgesetzbuch gehindert, die Fragen zu beantworten.“
Der taz versichert die Sprecherin des Bezirks Wandsbek, Anne Bauer: „Wir wissen von keinem Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiterinnen unseres Bezirks.“ Martina Kaesbach sagt: „Das ist eine dienstliche Angelegenheit, zu der ich mich nicht äußern werde.“
*Namen von der Redaktion geändert