Euphorisierender Auftritt des DFB-Teams: Spaß, Leichtigkeit und Lebensfreude
Huch! Die DFB-Auswahl gewinnt in Frankreich 2:0. Mit dieser Demonstration spielerischen Vermögens wird das Team zum EM-Favoriten.
Ein Spaziergang durch eines der schönsten Renaissance-Viertel Europas ist Pflicht für jeden, der nach Lyon kommt. Zudem pflegt die Metropole am Zusammenfluss von Rhône und Saône ihren Ruf, die gastronomische Hauptstadt Frankreichs zu sein. So gut etwa die Süßigkeit „Coussine de Lyon“ schmeckt, hat Fußballfreunden das schwarz-rot-goldene Galamenü in Décines-Charpieu gemundet. Der 2:0-Erfolg bei Vizeweltmeister Frankreich hat Appetit auf die Heim-EM gemacht. Oder wie Sportdirektor Rudi Völler sagte: „Das Beste, was wir die vergangenen Jahre gespielt haben.“
Die Euphorie für ein identitätsstiftendes Fußballevent in diesem Sommer zu entfachen, dozierte der in Ehren ergraute Volkstribun, „das kann gelingen“. Bundestrainer Julian Nagelsmann hat nach einer nicht unumstrittenen Radikalkur offenbar die richtigen Zutaten gefunden. Die Mischung aus Künstlern und Arbeitern, Routiniers und Talenten passte. Mit Florian Wirtz erzielte das hoffnungsvollste Juwel fürs nächste Jahrzehnt nach acht Sekunden das schnellste Tor der deutschen Länderspielgeschichte.
„Ich glaube, es hat keiner wirklich realisiert und nicht direkt verstanden, was da los war“, sagte der 20-jährige Kunstschütze und gestand: „Wir waren alle sehr überrascht.“ Allerdings handelte es sich um eine choreografierte Variante, die Standardtrainer Mads Buttgereit ausbaldowert hatte. Der Däne hätte ja auch vier Monate Zeit gehabt, scherzte Toni Kroos, „um sich was auszudenken“. Der Profi von Real Madrid führte auf Anhieb das Team an.
Ausgehebelte Deckung
Der 34-Jährige hatte mit seinem ersten Pass nach seiner Rückkehr die unsortierte Deckung der Franzosen ausgehebelt. Aber damit nicht genug: Die Rückkehr des Strategen ins deutsche Nationalteam übertraf alle Erwartungen – da verneigte sich sogar die Kulisse des geschlagenen Kontrahenten in Ehrfurcht. „Toni Kroos war unfassbar!“, schwärmte auch Bundestrainer Julian Nagelsmann. „Defensiv sehr stabil, offensiv der Ballverteiler.“
Genau ein solches Scharnier hätte eigentlich nach dem Kroos-Rücktritt im Anschluss an die EM 2021 Joshua Kimmich werden sollen, der sich jedoch rückblickend an der Aufgabe im Nationaltrikot verhoben hat. Ergo ist der alte Taktgeber auch der neue, der überraschend gut mit Abräumer Robert Andrich harmonierte, der erkennbar von der Klasse seines Nebenmannes profitierte. Kroos blieb hernach ganz bei sich: Der 34-Jährige sprach hinterher bloß von einem „guten und wichtigen Schritt“.
Der Bundestrainer wirkte zwar nicht überschwänglich, aber doch befreit. Am Vorabend hatte der 36-Jährige ausdrücklich betont, dass sich seine Spieler in Zeiten, in denen ein in einer freien Marktwirtschaft normaler Ausrüsterwechsel zum teils völlig sinnfreien Gefasel hochrangiger Politiker aller Lager führt, einfach vom Ballast befreien sollen. „Wir wollten Lebensfreude versprühen, das haben wir getan und einen sehr guten Mittelweg gefunden.“ Mit Ball Spaß und Leichtigkeit verströmen, gegen den Ball Kampf und Leidenschaft reinlegen.
Bravouröser Allrounder
Der Leitsatz („Wir kicken!“) schien vorne vor allem Wirtz und Jamal Musiala zum Zaubern zu animieren. Wie ein Wirtz-Traumpass den in die Tiefe startenden Musiala fand, um das 2:0 für Kai Havertz aufzulegen (49.), war Ausdruck einer auf diesem Niveau selten zu besichtigenden Spielfreude. Hinten legten Jonathan Tah und Antonio Rüdiger eine Verteidigungsleistung ohne Fehl und Tadel hin, wobei vor allem rechts außen Joshua Kimmich eine große Hilfe war.
Bravourös, wie der Allrounder vom FC Bayern seine Spielintelligenz einbrachte. Wenn ihm ein Kylian Mbappé in der besten Phase der „Bleus“ vor der Pause mal entwischte, blieb Keeper Marc-André ter Stegen in seinem schicken schwarz-rot-goldenen Torwartdress einfach stehen. Eigentlich unverständlich, dass solch ein Rückhalt bei der Europameisterschaft wieder weichen soll, wo doch Manuel Neuer bei der Weltmeisterschaft in Katar eine solch schlechte Figur machte. Ob Nagelsmann mit dieser Personalie richtig liegt?
Ansonsten hat der Bundestrainer im französischen Südosten einen Befreiungsschlag hinbekommen, weshalb nun darüber diskutiert wird, ob der nur bis Sommer befristete Vertrag verlängert werden muss. Der Fußballlehrer äußerte sich nur vage. „Am Ende möchte ich erst mal schauen, was Sache ist.“ Eine Ausdehnung des Anstellungsverhältnisses sei „nicht ausgeschlossen, aber auch nicht selbstverständlich“. Der DFB darf im Gegenzug verlangen, dass solche Darbietungen nicht die Ausnahme bleiben.
Noch immer vereint sein Aushängeschild nämlich so viel Potenzial, um sogar Didier Deschamps zu verunsichern. Frankreichs Erfolgscoach wirkte konsterniert, wie seine an drei der letzten vier WM- und EM-Finals beteiligte Équipe Tricolore binnen eines halben Jahres erneut gegen Deutschland verlieren konnte. „Wir waren nicht in der Lage, uns an das intensive Level des Gegners anzupassen.“ Auch das Fehlen eines solch „essenziellen Spielers“ wie Antoine Griezmann sei keine Ausrede, gab der 55-Jährige zu: „Wir haben im Kollektiv versagt.“
Kurz nach ihm nutzte Julian Nagelsmann das erst kurz vor Mitternacht erklommene Podium der Pressekonferenz, um mit Blickrichtung auf den nächsten Klassiker gegen die Niederlande (Dienstag 20.45 Uhr/RTL) einige Forderungen aufzustellen: „Losgelöst vom Ergebnis“ soll seine Elf bitte wieder dieselbe „Art und Weise“ im Auftreten zeigen. Er werde in Frankfurt nicht viele Veränderungen vornehmen; Fehler dürften auch gegen die „Oranjes“ in den dann pink-lilafarbenen Trikots gemacht werden, wenn „das Gegenpressing gut ist“.
Dann sprach der Bundestrainer vor der Abreise aus Lyon noch das Wort zum Sonntag: „Wir haben mal den Blinker gesetzt Richtung Heim-EM – es wäre gut, wenn wir weiter Gas geben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“
Rechtsruck in den Niederlanden
„Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“
Koalitionsverhandlungen in Potsdam
Bündnis fossiles Brandenburg
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig