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Archiv-Artikel

Magie im Hühnergarten

Franz Keller hat einen puristischen Kochstil entwickelt, der die Zukunft einer Gastronomie sein könnte, die ohne Massentierhaltung und Raubbau auskommen will

VON TILL EHRLICH

In der Nacht kommt der Orkan. Fährt in den Baum vorm Fenster. Zerrt am Geäst. Schlaflos ist Franz Keller. Er ist einer der bestbezahlten Meisterköche Deutschlands. Populär wie Witzigmann. Keller ist prominent, gehört zur Elite. Er weiß, wie es geht. Man engagiert ihn, ein Jahr später ist ein Stern da. Keller ist ein Sternemacher. Vierzig Jahre alt. Angst raubt ihm den Schlaf. Kriecht in den Körper. Vorm Fenster biegt Orkan Wiebke den Baum wie einen Grashalm. Keller denkt an Herzinfarkt. Er hat drei Restaurants und dreißig Angestellte. Er denkt daran, was die Sterne fordern. Gesundheit, Kredite, Zeit. Zeit, die fehlt. Für ihn und die Familie. Die Sterne sind gierig, verschlingen Kosten und am Ende ihn. Seine Restaurants sind jeden Tag ausgebucht. Keller arbeitet täglich mindestens 14 Stunden, trotzdem bleibt kaum etwas übrig. In jener Winternacht denkt er, sein Leben ist eine Mühle. Die ihn bald zermahlen wird. Draußen verwüstet der Orkan Hessens Wälder, und Keller denkt an Ausstieg. Es ist Januar 1990.

Fünfzehn Jahre später lenkt Franz Keller einen dunkelblauen Kombi auf der Uferstraße am Rhein zwischen Hattenheim und Wiesbaden. Rechts der Fluss, links die Weinberge des Rheingaus. Keller trägt einen braunen Hut und Dreitagebart. Er sieht aus wie ein Bauer, und er spricht auch so. Im alemannischen Singsang des Kaiserstuhls. „Wenn ich meine Tiere füttere“, sagt er, „tanke ich auf.“ Er redet gern über Tiere, seine Hühner und Enten, Freilandrinder und -schweine. Vor zwei Tagen sind die Indischen Laufenten geschlüpft. „Die sind noch im Brutkasten, sie dürfen keinen kalten Wind abbekommen.“

Nach neun Kilometern biegt der Kombi ab, holpert auf eine Umzäunung zu. Keller stoppt. „Das ist mein Hühnergarten.“ Fast am Ende steht ein ehemaliger Bauwagen mit den Brutkästen für die gerade geschlüpften Enten. Keller nimmt ein schwarzes Küken in die Hand. Er hält einen Augenblick inne, setzt es behutsam wieder zu dem Dutzend anderer Küken, hängt die Rotlichtlampe über dem Kasten tiefer, weil es draußen kalt geworden ist. Er schließt die Tür, greift sich einen französischen Gockel, prüft das schillernde Gefieder. „Ein Hahn, der hier im Garten bis zu seinem besten Geschmack und optimaler Größe sechs Monate braucht, hat im Geflügel-KZ keine drei Monate Zeit.“ Der stolze Hahn dankt es ihm trotzdem nicht und schimpft, bis der Koch ihn wieder freigibt. Jetzt klingelt das Handy, der Chef muss zurück nach Hattenheim, in seinem Restaurant „Adlerwirtschaft“ warten sie auf ihn. Er soll mehr Spargel besorgen. Und das Tagesmenü muss er auch noch schreiben.

Franz Keller stammt aus Oberbergen, einem Dorf am badischen Kaiserstuhl. Die Gegend war lange Zeit arm, bis weit in die Sechzigerjahre hinein gab es dort bäuerliche Kleinwirtschaft. Er hat diese von Selbstversorgung geprägte Welt noch kennen gelernt: eine Kuh, ein kleines Feld, einige Rebstöcke. Die Familie führte eine Dorfkneipe, den Schwarzen Adler. Von Großmutter Mathilde hat er dort das einfache Kochen gelernt. Zwiebelkuchen, Schäufele, Kartoffelsalat. Die Küche der Adlerwirtschaft hatte damals schon einen hervorragenden Ruf.

Nach der Kochlehre schickte ihn der Vater nach Frankreich. Irgendwie hat er sich durchgebissen, sich immer rechtzeitig vor den fliegenden Pfannen cholerischer Chefs ducken können. Ende der Siebzigerjahre hatte er es geschafft, war bei Paul Bocuse, wurde in den inneren Zirkel der französischen Kochelite aufgenommen. Bocuse machte ihn zu seiner rechten Hand, wollte ihn nicht gehen lassen, als der Vater ihn zurückhaben wollte. Es war die Zeit des so genannten deutschen Küchenwunders. Keller musste nach Oberbergen zurück, machte aus der elterlichen Wirtschaft ein 2-Sterne-Restaurant.

Keller hat die gute Küche im Blut. Er vereint in sich wertvolles Wissen, das durch die Industrialisierung von Landwirtschaft und Nahrungsmittelbranche weitgehend verloren gegangen ist: Wie lange muss ein Rinderrücken abhängen? Wie macht man Blätterteig selbst? Welche Apfelsorten eignen sich für eine Tarte Tatin?

Jetzt hat er ein Buch geschrieben: „Kein Kochbuch für Anfänger“ (Edition Braus im Wachter Verlag, Heidelberg, 240 Seiten, 35 Euro). Er gibt weiter, was er über das Kochen weiß und denkt. Es ist vielleicht das wichtigste Kochbuch der letzten Jahre. Kein Blendwerk mit Rezepten, die nicht funktionieren. Ein Koch reflektiert über sein Leben, seine Ethik und die puristische Haltung zum Kochen.

Keller kocht immer noch gern, aber anders als früher. Er hat strenge Regeln aufgestellt, die ihn und sein Team vor Verschleiß schützen. Sie ruhen sich drei Tage in der Woche aus, nehmen am Stück einen Monat Ferien im Jahr. Kreditkarten werden nicht akzeptiert. Sadistische Gäste werden freundlich, aber nachdrücklich der Tür verwiesen. Keller hat sich seit jener Nacht 1990 ein zweites Leben aufgebaut. Ohne Sterne.

Er schläft jetzt besser, sagt er. „Ich glaube an die Magie der Langsamkeit. Man sollte aus dem Essen wieder ein Ritual machen. Zusammen einkaufen, kochen, essen – sich Zeit nehmen.“ Viele Köche seien nur mehr Dekorateure: Eine Portion muss der anderen gleichen. Keller dekoriert nicht. Er ist kein Virtuose, der seine ganze Energie in die Veredlung von Produkten steckt, aber nicht weiß, wie sie entstanden sind. Es geht ihm um die Arbeit mit Tieren und Pflanzen. Um Respekt vor natürlichen Kreisläufen. Und darum, als Koch wieder ein Teil dieser Zusammenhänge zu sein. Er ist einer, der den Bauern kennt, der den Kopfsalat anbaut, den er abends seinen Gästen serviert. Keller ist ein Koch, der die Hühner füttert, die jene Eier legen, mit denen er köstliche Desserts bereitet.

Einfach zu kochen bedeutet, die Energie in die Produkte, nicht in elitären Schickimickizirkus zu geben“, betont er. „Sehr gut kochen heißt auch, dass man erschwinglich bleibt für junge Leute und Familien.“

Franz Keller hat einen Traum: zwei Vorspeisen, zwei Hauptgerichte, zwei Desserts – für zwanzig Euro pro Person. Fertig. „Wie in einer Landtrattoria.“ Er unterbricht sich: „Es ist kein Traum“, sagt er. „Wenn ich alt bin, will ich nur noch so kochen.“ Es soll der Schlussstein sein. Die Konsequenz eines Meisterkochs.

„Adlerwirtschaft“, Hauptstraße 31, 65347 Eltville-Hattenheim, Fon (0 67 23) 79 82 www.adlerwirtschaft.de TILL EHRLICH, 40, lebt als freier Autor in Berlin