berliner szenen: Nur die H-Milch-Diebin
Ein üblicher Ekelnachmittag: Der Himmel grau, nieselnd, pieselnd, die Luft kalt, der Wind messerscharf. Ich will meinen englischen Breakfast Tea trinken, aber die letzten Milchschlucke habe ich natürlich heute früh verballert. Mann ey, kann ich nicht einmal zu Hause ankommen, ohne noch mal loszumüssen?
Manche Menschen müssen’s nicht. Entweder sind sie viel organisierter – Psychos – oder sie verzichten auf stoische Art – Psychos. Ich bin weder Psycho noch Psycho, deswegen muss ich noch mal raus zum Kiosk. Immerhin kann ich mein Ego vom jungen Mitarbeiter streicheln lassen. In seiner Gegenwart komme ich mir wie eine Sirene vor.
Im Laden nehme ich die 2,09-Euro-H-Milch vom Regal und gehe zur Kasse. Zack, der junge Mann ist da. Statt mich zu beachten, schwätzt er mit seinem Kumpel. Mir fällt beim Bezahlen der Grund wieder ein, weshalb ich heute keine Milch eingekauft habe und ich die traurigen Restschlucke über so viele Tage gestreckt habe. Mir bleiben circa 15 Euro auf dem Notfallkonto. Zahlung abgelehnt. Ohne sein Gespräch zu pausieren hält er mir die Maschine noch mal hin. Die Notfallkarte taugt. Ich bedanke mich, trödele heraus und gehe weiter, in Gedanken verloren. Plötzlich tippt mich ein Fremder an und zeigt die Straße runter. Da steht der junge Mann vom Kiosk. Er wirft die Hände in großer Enttäuschung hoch: „Bezahlst du noch?“ „Bitte?“ „Ist nicht durchgegangen, du bist einfach weggegangen, was soll das?“ „Doch, habe ich!“ Er führt mich zum Laden und blättert die Belege durch, während ihn der Chef wütend beaufsichtigt. Der Chef weiß: Ich bin treue Kundin. Der Beleg – 2,09 Euro Kartenzahlung vor 3 Minuten – taucht auf, und der junge Mann entschuldigt sich. Aber mir ist klar: Ich bin nichts Besonderes. Keine Sirene, sondern H-Milch-Diebin.
Nina Kashi Street
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