: Ach du liebes bisschen
In Bildern und mit Tagebucheinträgen hat der Fotograf Mario Wezel das Jahr nach der Geburt seines ersten Kindes festgehalten
Wer ein Kind bekommt, für den beginnt ein neues Leben. Ohne die Klischees von windelnwechselnden Vätern mit Tragetuch zu wiederholen, dokumentiert Mario Wezel, wie sich die Beziehung zu seiner Partnerin und seinen Eltern nach der Geburt seines Kindes verändert – und auch, wie sich großes Glück und der schmerzhafte Verlust von Freiheit abwechseln.
Donnerstag, 16. 11. 2017
Ich wache aus einem nicht existierenden Schlaf auf und spüre als Erstes meine Beine. Sie sind so schwer, als hätte ich die letzten beiden Nächte durchgefeiert. Ich schrecke hoch, weil mir eingefallen ist, was die eigentliche Ursache meiner Erschöpfung ist: du. Und tatsächlich liegst du immer noch da, nah an C.s Brust, und scheinst recht zufrieden. Wir verbringen den Morgen zu dritt im Bett. Es ist dein erster Morgen auf dieser Welt. Mich überkommt das Verlangen, diesen Moment einzufrieren, in all seinen Details: der riesige Klamottenhaufen auf dem kaputten Sessel in der Ecke, der Spiegel mit dem Riss am oberen Ende, das grau-weiß gestreifte Bettzeug mit dem roten Laken. Ich versuche mir die Farben und die Reihenfolge meiner Hemden auf der Stange einzuprägen, bin aber vom bloßen Gedanken daran zu erschöpft. (…)
Dienstag, 21. 11. 2017
Ich stehe am Fenster, mit dir auf meinem Arm, und schaue auf die Straße. Draußen hat sich nichts verändert, hier drinnen ist alles anders. Du wirst ruhiger, dir scheinen meine kreisenden Bewegungen zu gefallen, aber wer weiß schon, ob das der Fall ist. Allgemein fühlt es sich so an, als wüsste ich nichts mehr mit hundertprozentiger Sicherheit. Tage werden zu Nächten, werden unendlich. Die Welt ist auf die Wände unserer Wohnung geschrumpft. Wörter haben ihre Bedeutung verloren. Alles ist auf null gesetzt.
Mittwoch, 7. 2. 2018
Du liegst auf meinen Oberschenkeln und musterst mich (…). Wenn du mich so anschaust, fühle ich mich besonders. Ich frage mich, ob es das ist, was Eltern später so traurig macht: dass sie nie wieder so angeschaut werden – nicht von ihren Kindern und auch sonst von niemandem.
Montag, 8. 10. 2018
Ich hebe dich hoch, auf den Arm des Erziehers, drehe mich um, gehe die Treppen hinab und sehe dich noch lachen, weil ich mit dem Kopf gewackelt habe. Als du merkst, dass ich nicht zurückkomme, beginnst du zu schreien. (…)
Mario Wezel: „Das Ende der Unsterblichkeit“, Fotohof, 38 Euro
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