: Unter Verdacht
Es ist die Zeit für Verschwörungstheorien. Sie gedeihen besonders prächtig in einem OB-Wahlkampf, bei dem ein PR-Stratege als CDU-Kandidat installiert wurde, der nun auch noch bei den Piraten mitmischen will. In diesem lustigen Gewächshaus sprießen immer wieder neue Kandidaten (nach Bettina Wilhelm nun vielleicht bald schon Hannes Rockenbauch) und neue Initiativen (21 Kandidaten gegen S 21). Eine davon sind die Meisterbürger, Ende Februar angetreten, einen OB-Kandidaten mitten aus der Bürgerschaft zu finden. Sie sehen sich nun im Verdacht, ein U-Boot von Turners Exfirma Scholz & Friends und von S-21-Befürwortern zu sein
von Susanne Stiefel
Katrin Steglich hat es kalt erwischt. Da wollte sich die studierte Software-Entwicklerin als Mitinitiatorin der Meisterbürger für mehr direkte Demokratie bei der OB-Wahl starkmachen; wollte als S-21-Gegnerin Strukturen des Widerstands auch für weitere politische Aktivitäten retten und nutzen; wollte mit ihren Mitstreitern eine Plattform für mehr Bürgerbeteiligung bieten: Meisterbürger – das sollten alle sein. Und nun wird die S-21-Gegnerin verdächtigt, das U-Boot zu sein, um knallhart Wirtschaftsinteressen beim Bahnhofsbau durchzusetzen und schwarzen Machtkartellen zum Sieg bei der OB-Wahl zu verhelfen. „Ich war schockiert“, sagt die 40-Jährige, die heute als Coacherin im Bereich vernetztes Lernen arbeitet.
Was war passiert?
„Die Frau hinter der Initiative Meisterbürger“, so war auf den Parkschützerseiten zu lesen, „betreibt eine Public-Relations-Agentur und arbeitet bei einer Stiftung, die von IHK, Sparkassen (inclusive LBBW) und SWMH-Zeitungen betrieben wird.“ Steglich gleich Scholz & Friends, IHK gleich S-21-Befürworter, Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten längst als Speerspitze der Tieferleger entlarvt. Das Böse aufs Schönste vereint – ach, wenn das Leben nur so einfach wäre!
Man muss ja die Farbe von Katrin Steglichs „Stuttgart Salon“ nicht mögen, die Prinzessin-Lilifee-Anmutung des Online-Auftritts ist nicht jedermanns Sache. Doch im rosa Ambiente der kommunalpolitischen Initiative werden seit 2008 Themen diskutiert zur Stadtentwicklung. Der Stuttgart Salon, 2009 zu Gast bei der Stiftung Geißstraße, will möglichst viele engagierte Bürger einbinden in die Diskussion um „ihre“ Stadt. Bisher noch kein U-Boot in Sicht.
Dann ist da noch Curious Minds, Steglichs Agentur, die keine PR-Agentur ist, sondern Weiterbildung zum Thema vernetztes Lernen anbietet und dies auch für die Röser-Stiftung Social Angels tut. „Scholz & Friends oder Herr Turner haben sich weder bei mir noch bei den Meisterbürgern gemeldet“, sagt Katrin Steglich, „sie haben auch keinen Grund.“ Der Schock ist einer gewissen Gereiztheit gewichen. Die Verdächtige Steglich sah sich genötigt, ein öffentliches Glaubensbekenntnis gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt abzugeben. Netzöffentlich. Nicht ohne die Anmerkung, dass man doch bitte genauer recherchieren solle, bevor man wilde Theorien entwickle. Der Vollständigkeit halber: alle offiziellen Parteikandidaten sind – unter vielen anderen – auch auf der Meisterbürger-Plattform zu finden. Ob sie die Zustimmung der Bürgerschaft finden, wird sich weisen.
Bleibt Jürgen Röser, Stiftungsgründer von Social Angels. Der diplomierte Wirtschaftsingenieur ist Geschäftsführer und Mitgesellschafter des Familienunternehmens in Mundelsheim. Seine Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Führungskräfte, die vor dem Ruhestand stehen, für ein bürgerschaftliches Engagement im Ruhestand zu gewinnen. Bei Veranstaltungen, die auch von der IHK und der LBBW unterstützt werden, stellen NGOs wie etwa die Caritas, die Evangelische Gesellschaft (Eva) oder der Naturschutzbund Baden-Württemberg (Nabu) ihre Arbeit vor und werben in der Führungsebene für ehrenamtliche Unterstützer. So weit die nüchternen Fakten.
Bleiben die von Jürgen Röser angemieteten Räume in der Senefelderstraße, in denen die Meisterbürger Unterschlupf gefunden haben, weil auch Netzkommunikatoren ab und an das nicht virtuelle Treffen zur Absprache brauchen. Und damit sind wir bei Jürgen Rösers Brotjob als Chef der Zementrohr- und Betonwerke Karl Röser & Sohn GmbH. Die erstellen, so Röser, bei Tiefbauprojekten – wie etwa dem Stuttgarter Bahnhof – ausschließlich Angebote für Betonfertigteile im Kanalbereich. „Wir haben derzeit keine Lieferverträge für S 21“, sagt Röser gegenüber der Kontext:Wochenzeitung, „aber wenn wir einen Auftrag von einem unserer Kunden erhalten sollten, liefern wir auch.“ Dass mit S 21 Geschäfte gemacht werden, ist unstrittig. Wer dabei abkassiert, darf und muss gescannt werden. Ob Jürgen Röser dazugehört, wird sich weisen. Nach seinen Aussagen ist das bis dato nicht so.
Wer neue Wege geht, kann auch mal auf die Nase fallen
Man mag den Meisterbürgern und ihrer Experimentierlust einiges vorwerfen. Dass sie politisch naiv seien, weil sie über alles Parteiengezänk hinweg für alle Bürger offen sind. Dass sie die Möglichkeiten des Netzes über- und die Gefahren der Instrumentalisierung unterschätzen. Dass ihr OB-Labor zu viele Unwägbarkeiten birgt, weil es eben noch keine Vorbilder für Monitoring und Liquid Democracy gibt. Doch das ist nun mal die Idee von Werkstätten – hier werden neue Wege beschritten, und es wird ausprobiert. Dabei kann man durchaus mal auf die Nase fallen. Ferngesteuert aus Berlin sind die Experimentierwilligen jedenfalls nicht.
Man mag der Röser-Stiftung vorwerfen, dass es keine Erfolgskontrolle gibt, wie viele der von ihnen angesprochenen zukünftigen Ruheständler sich dann wirklich im Ehrenamt engagieren. Darüber, so Röser, führe er keine Strichliste. Beim Nabu hat sich zumindest ein hochkarätiger Ehrenamtlicher gemeldet, bei der Eva hat man die Röser-IHK-Veranstaltungen zur Werbung für soziales Engagement genutzt. Katrin Steglich wird weiter als Dozentin Führungskräfte coachen, um sie zu ehrenamtlichem Engagement nach dem Ruhestand zu bewegen.
Und die Meisterbürger werden, allen Verschwörungstheorien zum Trotz, weiter nach ihren OB-Bürgerkandidaten suchen. Ende April, so der Plan der Organisatoren, werden in einer ersten Abstimmung die Wunschkandidaten festgestellt. Diese werden dann gefragt, ob sie überhaupt Oberbürgermeister von Stuttgart werden wollen. Falls ja, brauchen sie 250 Unterstützer. Und wer dann immer noch dabei sein will, der oder die muss sich einem Monitoring stellen, bei dem alle KandidatInnen von den Bürgern auf Herz und Niere geprüft werden sollen. Das Video dieser Veranstaltungen soll im Netz stehen, damit die Kandidaten auch zukünftig an ihren Aussagen gemessen werden können. Das Verfahren dieser Bürgermeister-Werkstatt ist ungewohnt und kompliziert. Aber manchmal sind ungewöhnliche Wege auch eine Chance – nicht nur für Verschwörungstheorien (VT).
Apropos VT: auch Kontext wird in Parkschützerkreisen inzwischen zum „schwarzen Kartell“ gezählt. Wegen der Leibinger Stiftung. Zur Klarstellung: von dieser Stiftung fließt kein Cent in das Zeitungsprojekt Kontext, sondern ausschließlich in das Bildungsprojekt „Lernen als Recherche“. Darauf achten Stifter und der Verein für ganzheitlichen Journalismus peinlich genau. Dieser Verein besteht aus drei Säulen. Da sind die Bildungsprojekte an Uni und Schule. Da sind die öffentlichen Veranstaltungen zur Medientransparenz, die wir unter anderem mit der Stiftung Geißstraße durchführen. Und da ist die Kontext:Wochenzeitung, anzeigenfrei, keiner Konzernstrategie und keinem Verleger verpflichtet, unabhängig, finanziert aus Spenden der Bürgergesellschaft.