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Archiv-Artikel

Lust und Leid eines Traums

Das Hausprojekt in der Yorckstraße 59 ist seit gestern Geschichte. 17 Jahre lang wurden hier neue Lebens- und Politikformen erprobt. Gedanken zu dem, was mit der Räumung zu Ende geht

VON HEIKE KLEFFNER

Letzte Bilder: Im Innenhof vor der roten Backsteinfassade des Fabrikgebäudes knien sechs Männer und Frauen vor einem knappen Dutzend Polizeibeamten. Vor dem Tor und an den Absperrungen stehen ohnmächtig ein paar hundert Menschen. Mal stressig, mal schön, oft politisch und genauso oft privat: Was über Jahre selbstverständlich schien – kollektive Lebens- und Projekträume – wird zur uniformiert-besetzten Zone.

Erste Bilder: Mitten in der autonomen Mobilisierung gegen das Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Westberlin im Jahr 1988 fällt die Vertragsunterzeichnung für das vierstöckige Fabrikgebäude: Ein Gewerbemietvertrag mit Wohnrecht über elf Jahre – ausgehandelt von StudentInnen, vor allem des Otto-Suhr-Instituts der FU. Wie autonom konnte Mieten statt Besetzen, 61 statt 36 sein?

BewohnerInnen: zu Beginn Anfang 20, fast immer StudentInnen und deutscher Herkunft. Zur Jahrtausendwende: Schon über dreißig, fast immer lohnarbeitend, immer mehr Kinder. Im neuen Jahrtausend: In jeder Hinsicht gemischter; eine Mehrheit zwischen zwanzig und dreißig.

Alltag im letzten Jahrtausend: Plena, Plena, Plena – über Baupläne und -schichten, Zimmer mit und ohne Wände; vegetarischen Einheitsbrei oder Fünfgängemenüs; Kinderdiskussionen und Gruppenhierarchien, Putzpläne, Haushaltskassen, Hof- und andere Feste, Veranstaltungen und Sport. Ein Computer im Glashaus und zwei Telefone im Kühlschrank. Ein paar Jahre offene Türen – aus Prinzip.

Alltag bis zur Räumung: Schlägertrupps im Treppenhaus ignorieren, durchgeschnittene Telefonkabel reparieren, demonstrieren, Websites aktualisieren, Ehemalige agitieren, Pressemitteilungen verschicken, die Lieblingssachen packen – und: Plena, Plena, Plena.

Ausweichorte im letzten Jahrtausend: Die damaligen linksradikalen Hochburgen Mehringhof und Ex und bei schönen Wetter der Kreuzberg; später die Mainzer Straße und besetzte Häuser in Friedrichshain, und für ungestörte Rendezvous: Cocktails im Zyankali. Die Ausweichorte von heute: Im ganzen Stadtgebiet verteilt, je nach Freundeskreis, Arbeitsstellen und Kitas.

Lebensqualität: mit sechzig unterschiedlichen Frauen und Männern auf knapp 3.000 Quadratmetern wohnen. Wohngemeinschaften von und für Frauen, Lesben, Schwule, Queers, Hetero-Männner, Frauen und Männer … Bis zum frühen Morgen kiffend am offenen Fenster zu sitzen und in der gegenüberliegenden Tanzfabrik die Putzschicht zu bedauern. Auf politische Zumutungen gemeinsam reagieren zu können.

Niederlagen: Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt, Rostock – immer häufiger zu spät gekommen, um rassistische Angriffe zu verhindern. Auf durchwachte Nächte in Flüchtlingsheimen folgen Debatten über Militanz und Prioritätensetzung.

Reibungspunkte: Lohnarbeit, Ausbildung und Wunsch nach individuellen Freiräumen: Mauern wuchsen. Der badlose Zustand einiger Etagen förderte den Austausch mehr als manches nervige Plenum. Kinder passten in das Mehrheitswohnkonzept erst Ende der 1990er-Jahre.

Institutionen: die Antirassistische Initiative und ihre Kampagnen zum Beispiel gegen Abschiebehaft. Das geordnete Chaos des ARI-Archivs und lange das einzige Fax im Haus.

Erfolge: ExiInnensenator Jörg Schönbohm (CDU), Exbausenator Peter Strieder (SPD) und das Spekulantenpaar Garski/Penz überdauert zu haben.

Hoffnung: dass es diesen nicht immer selbst bestimmten, aber liebenswerten, chaotischen, offenen Raum immer gibt. Die Hoffnung: nicht aufgeben.

Hinweis: HEIKE KLEFFNER war Bewohnerin der Yorck 59. Sie ist freie Journalistin und leitet heute die „Mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt“ in Sachsen-Anhalt.