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Rache für die Hölle auf Erden

In „Der Afrik“ erzählt Sven Recker aus der Zeit, in der Deutschland ein Auswanderungsland war

Von Fokke Joel

Im 19. Jahrhundert gab es in Deutschland mehrere katastrophale Missernten. Hunger und Verarmung zwangen Millionen Menschen zur Auswanderung. Auch in Pfaffenweiler, einem kleinen Dorf am Rande des Schwarzwalds, begannen diejenigen, die keinen Grundbesitz hatten, zu leiden. Um das Problem der Armen loszuwerden, rodete die Gemeinde an einem Hang einen Wald und verkaufte das Land zum Weinanbau. Mit dem Erlös wurde eine Schiffspassage für 23 Familien in die französische Kolonie Algerien finanziert.

Dort, so wurde ihnen versprochen, bekämen sie fruchtbares Land zugewiesen und könnten ein neues, besseres Leben führen. 132 Menschen zogen im Dezember 1853 in Richtung Nordafrika. Doch das gelobte Land entpuppte sich als Hölle. Auf dem unfruchtbaren Boden am Rand der Wüste waren Hunger und Armut schlimmer als in der alten Heimat. Der Versuch, mittels Bittschriften den Gemeinderat dazu zu bringen, die Auswanderer zurückzuholen, scheiterte. Nur ein einziger Mann, Franz Xaver Luhr, gelang es, nach Pfaffenweiler zurückzukehren.

Der neue Roman des Journalisten und Schriftstellers Sven Recker setzt einige Jahrzehnte nach Luhrs Rückkehr ein. Ihm, der von den Dorfbewohnern nur „der Afrik“ genannt wird, hatte die Gemeinde eine kleine Hütte an jenem Weinberg zugewiesen, dessen Hang für die Schiffspassage der Armen gerodet worden war. Seinen Lebensunterhalt verdient Luhr in einem nahe gelegenen Steinbruch. Aber innerlich dreht sich bei ihm alles nur um eins: den Weinberg, der im Dorf „Afrika“ genannt wird, in die Luft zu sprengen. In jahrelanger Arbeit gräbt er einen Tunnel unter den Berg; aus dem Steinbruch entwendet er Dynamit. Sein ganzes Sein dreht sich nur noch um die Rache, dessen Ausdruck ihm als eine Mischung aus Traum und Albtraum in der Form des Nachtkrapps erscheint.

Doch eines Tages taucht vor der Hütte des von Einsamkeit und Rachegefühlen fast sprachlos gewordenen „Afrik“ ein Junge auf. Er hält ihm einen Zettel hin, auf dem auf Französisch steht: „Ich bin Jacob. Du bist Familie.“ Luhr kann sich an kein Kind erinnern, nimmt aber den Jungen zunächst auf. Allerdings lässt der ihm durch seine fordernde Art kaum eine andere Wahl. Und siehe da, der „Afrik“ beginnt im Krämerladen des Dorfes nicht nur einzelne Worte, sondern einen vollständigen Satz zu sprechen. Was den Nachtkrapp in Luhrs Visionen nervös macht.

Sven Recker: „Der Afrik“. Edition Nautilus, Hamburg 2023. 160 Seiten, 22 Euro

„Der Afrik“ ist ein einziges inneres Selbstgespräch von Franz Xaver Luhr. Ruhelos wirkt bereits der Anfang, an dem er sich über den Nachtkrapp Klarheit zu verschaffen versucht. Dass er nicht nur Kindern erscheint, sondern auch ihm, dem alten Mann, und dass die Erwachsenen im Fasching versuchen, der negativen Gefühle, die der Nachtkrapp ausdrückt, Herr zu werden. Die Schreibweise Reckers, in der sich Luhr im inneren Selbstgespräch mit „du“ anspricht, zieht den Leser ohne große Unterbrechungen durch den Roman. Ein Selbstgespräch vor allem durch die dunkle Seite des Protagonisten, von dem, außer einem Foto vom Ende des 19. Jahrhunderts, nichts bekannt ist.

Dass der „Afrik“ sich an der Gemeinde, die ihn in die Hölle von Algerien gelockt hatte, rächen will, ist deshalb von Recker erfunden. Trotzdem wirkt die Figur authentisch, gerade in einer Zeit, in der Hass und Gewalt wieder Konjunktur haben. Die Botschaft des Buches ist klar. Das gibt dem Roman einen erbaulichen Einschlag. Hier wird davon erzählt, was das Gefühl der Rache aus einem Opfer macht. Und welche Perspektive es gibt, aus dieser emotionalen Sackgasse wieder herauszukommen.

Eine zivilisatorische Parabel, die vom Menschen als sozialem Wesen erzählt, in der ein Kind dafür sorgt, dass die Erinnerung an Leid und Elend in den Hintergrund tritt. Trotz dieser offensichtlichen Botschaft liest man den Roman mit Interesse. Vielleicht auch wegen unserer von Gewalt und Krieg so geprägten Zeit.

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