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Fragile Gemeinschaften, ausgesparte Komplexitäten

Es menschelt im HAU. Gob Squad von „Handle with Care“ erzeugt viel Nachbarschafts- wärme. Die authentische Kiez-Nähe setzt dem Theater jedoch arge Grenzen

Theater für alle: Szene aus Gob Squad, „Handle with Care“ Foto: Dorothea Tuch

Von Tom Mustroph

Eine halbe Stunde vor Premierenbeginn im HAU sieht man um die Ecke in den Büroräumen der Smart Genossenschaft noch einen Chor üben. Er könnte prima bei „Handle with Care“, der neuen Gemeinschaftsproduktion von Gob Squad, mitmachen.

Dieser spezielle Chor der Selbständigen-Genossenschaft taucht dann allerdings doch nicht auf der Bühne des altehrwürdigen Hebbel Theaters auf. Denn er probt ja an der Mehringbrücke. Und Gob Squad, diese Pioniere des postdramatischen Theaters, haben ihren Suchradius für gemeinschaftliche Projekte eben auf den Mehringplatz beschränkt. Der liegt zwar nur ein paar Hundert Meter weiter. Aber außerhalb ist eben außerhalb, selbst bei Projekten, die von Einbeziehen und Zusammenhalt handeln.

„Handle with Care“ ist solch ein Projekt. Gob Squad hat dafür Verbindung aufgenommen mit zahlreichen Initiativen und Einzelpersonen aus dem benachbarten Kiez.

Die Bühne ist schnell gefüllt mit den – vor allem – Köchinnen von KiezKochen Kreuzberg, die sich jeden letzten Donnerstag im Monat in der Kiezstube am Mehringplatz zum gemeinsamen Gemüseschnippeln, Kochen und Essen, vor allem aber zum Miteinandersein und Sichaustauschen treffen. Denn allein sein kann schnell zur Krankheit werden in der Großstadt.

Ganz offensiv als Therapie gegen das Alleinsein beschreiben Mitglieder des Chors „Eskimeyenler topluluğu“ – auf Deutsch etwa „Zeitlose Gemeinschaft“ oder „Gemeinschaft Zeitloser Menschen“ – ihre kollektive Sangeskunst. Sie stimmen ihre Lieder an, während im Hintergrund die Suppe köchelt und der Duft sich im Theater ausbreitet.

Damit es etwas gemütlicher wird, haben die Techniker des HAU auch die Bestuhlung im Parkett herausgenommen. Man lungert jetzt auf pinker Auslegeware herum, darf sogar Getränke und Essen mit hereinbringen – welch ein Bruch der Konventionen des bürgerlichen Belehrungsapparats Theater.

Ein bisschen belehrt wird jetzt natürlich auch, aber nicht von der Höhe der Alleswissenden, Alleskönnenden und alle Diskurse gefressen Habenden herab, sondern auf Augenhöhe, als geteilter Erfahrungsschatz.

Die Frauen, meist türkischer, arabischer, persischer und afghanischer Herkunft, die hier Gemeinschaft herstellen, berichten von klaren Regeln.

Sie erzählen von dem, wovon sonst wenig öffentlich aus ihrer Perspektive wahrzunehmen ist: Der Krieg in Nahost gehört dazu, der eigene religiöse Hintergrund, wie schön oder nicht schön die Wohnung ist. Manche haben keine Wohnung, erfährt man, bei anderen sind die Verhältnisse so beengt, dass die Wohnungsfrage eher Schmerz auslöst. Potenziell Trennendes wird jedoch eher ausgespart.

Im Mittelpunkt steht das Sorgen umeinander, das Kümmern und Helfen und die Vorsicht dabei.

Das englische „Care“ vereint beide Aspekte: kümmern und sorgen. Aber auch Behutsamkeit, damit fragile Gebilde, wie eine Gemeinschaft Verschiedener es ist, nicht zu Bruch gehen.

Gob Squad schafft mit dem Projekt tatsächlich neue Gemeinschaften. Das Avantgardetheater steht hier offen für Nachbarn aus dem Kiez, für Menschen, die bisher glaubten, Theater sei nicht für Leute wie sie.

Und es ist gut, dass neben der klassischen Expat-Sprache Englisch nun eben auch Arabisch und Farsi, Dari und Türkisch erklingen. Nicht jeder versteht alles trotz dreisprachiger Simultanübersetzung auf der Bühne. Aber das gehört halt auch dazu.

„Handle With Care“ wirft allerdings auch einige Fragen auf. Die Care-Arbeit auf der Bühne wird weitgehend von Frauen geleistet. Überraschend unkritisch wird dieser Alltagsbefund nun in den Kunstraum gewuchtet, längst überkommen geglaubte Geschlechterbilder hier geradezu zementiert. Natürlich ist die Vorsicht, mit der die einzelnen Gemeinschaft Schaffenden miteinander umgehen, bemerkenswert.

Aber können Gemeinschaften, die das Politische ausschließen, sei es die Wohnungspolitik oder den Krieg, tatsächlich Verhältnisse ändern?

Stabilisieren sie bei aller Fürsorge nicht ebendiese Verhältnisse, unter denen sie leiden? All das auch noch in einem Theater, das gewöhnlich politisches Bewusstsein wie ein Banner vor sich her trägt.

Überraschend unkritisch wird der Alltagsbefund nun in den Kunstraum gewuchtet

„Handle With Care“ ist kein Abend der Lösungen, eher einer der Fragen, der Verunsicherungen und des Aufbrechens von Gewissheiten. Am Ende tanzt und singt das Publikum mit allen auf der Bühne zum in viele Sprachen übersetzten Gassenhauer „Das waren Tage“.

Großes Glück erfüllt alle Herzen. Der Ursprung des Lieds aus dem Russischen, kurz vor der Oktoberrevolution 1917 populär geworden, erschließt sich nicht.

So zeigt sich mal wieder: Der Erfolg von Gemeinschaftbildungen liegt oft daran, dass sie manche Komplexitäten unterschlagen. So gesehen ist „Handle with Care“ dann nicht nur ein berührender und nicht nur ein ziemlich schlauer sondern letztlich sehr traurig stimmender Abend.

Tolles Theater, teilweise unfreiwillig, und fast ohne Theater.

Wieder am 4. und 5. Dezember im HAU

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