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MUSIK IM RADIALSYSTEM Hans-Werner Kroesinger und das Vocalsondort Berlin widmen sich den Motetten von Carlo Gesualdo

Wovon Shakespeare in seinen blutigsten Dramen nur schrieb, das hat Gesualdo gelebt

Was für eine Musik und was für ein Stoff! Ein italienischer Fürst der Spätrenaissance, der mit seinen Kompositionen wundervoll-meditativer Madrigale und Motetten für nichts als menschliche Stimmen die äußersten Ränder der Musik erkundet hat. Carlo Gesualdo di Venosa hieß dieser Mann. Mit William Shakespeare teilt er fast aufs Jahr die Lebensdaten. Doch wovon Shakespeare in seinen blutigsten Dramen nur schrieb, das hat Gesualdo gelebt: Mit äußerster Brutalität ermordete er seine Ehefrau Maria d’Avalos, deren Liebhaber, den Herzog von Andria, sowie sein Kind, an dessen Vaterschaft er zweifelte. Dann stellte er die nackten Leichen mit ihren demütigenden Verletzungen auf den Stufen seines Palastes tagelang zur Schau.

So ist er als Mörder in die Geschichte eingegangen und als Komponist von sakraler Musik, aus der der Mensch nach Erlösung schreit. Diesen Stoff hat sich der Theaterdokumentarist Hans-Werner Kroesinger vorgenommen, dessen musikalisches Gehör in seinen Projekten noch aus der Vorlesung und Rezitation trockenster Akten geradezu konzertante Sprechkonzerte zu destillieren versteht. Gelegenheit zu diesem Gesualdo-Projekt bot ihm die VI. Biennale Alter Musik „zeitfenster“ im Radialsystem, in deren Rahmen das Jahrhunderte lang unaufführbare zweite Buch der Motettensammlung „Sacrae Cantiones“ zum ersten Mal durch das Vocalconsort Berlin zu Gehör gebracht wurde. Der britische Komponist James Wood, der auch die musikalische Leitung des Abends hatte, hat in jahrelanger Arbeit zwei verloren gegangene Stimmen der Motette rekonstruiert.

Man war also gespannt, aber dann auch schnell enttäuscht. Zwar wurde das faszinierende musikalische Vokabular der Motetten von den einundzwanzig Sängern mit äußerster Präzision präsentiert und konnte seinen meditativen Sog entfalten. Aber leider hat Kroesinger den Sängern eher alberne Polonäsen und uninspirierte Gänge auferlegt, die womöglich Assoziationen an klösterliche Prozessionen wecken sollen. Immer wieder schieben sie pultähnliche Klötze über die Bühne, manchmal kratzen sie schreibend mit Federn darauf herum. Am Ende werden die Klötze zu einem Gebilde zusammengeschoben, in dem man mit etwas gutem Willen stilisierte Palasttreppen erkennen kann. Ein weißes (Unschuld!) Lacken, das dekorativ darüber gebreitet ist, soll wohl das geschlachtete Liebespaar symbolisieren.

So wird der epochale Stoff auf den Faktor der blutigen Sensation reduziert. Zwar lässt Kroesinger aus den Akten zum Casus lesen, dem Untersuchungsbericht der Gran Corte della Vicaria zu Neapel vom 27. Oktober 1590 zum Beispiel. Doch wer die Quelle nicht kennt, dem wird das an diesem Abend auch nicht verraten. Feierlich werden hier ein paar Brocken Herrschaftswissen zelebriert. Allerdings ohne jeden Mehrwert für den Blick auf Komponisten und Werk.

Im Gegenteil, bald beginnen die unbeholfenen Arrangements den beeindruckenden Vortrag des Vocalconsorts ziemlich zu stören. Im Hintergrund läuft auf einer Leinwand eine Videomontage aus barocken Bildnissen der Jungfrau Maria. Rauchende Felsspalten folgen, Aufnahmen des Schlosses von Venosa, das immer noch steht (etwa eine Autostunde von Neapel entfernt), Gesualdos Grab, Kirchen, schließlich das berühmte Altarbild, auf dem das einzige Bildnis Gesualdos überliefert ist. Alles in allem ist die Montage in einem Stil gehalten, mit dem ambitionierte Klassikfans auf Youtube gern ihre Lieblingsstücke visualisieren.

Gesualdos Kompositionen seien eine Expedition in die „feinen Mechanismen und Abgründe der menschlichen Gefühlswelt“, kann man im Programmheft lesen. Die Erschließung dieser Welten hatte man sich von diesem Abend erhofft. „From Inside“, ist er überschrieben. Aber leider bleibt man draußen.

ESTHER SLEVOGT

■ Wieder im Radialsystem am 2. Mai, um 19 Uhr