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Wo die Geschichten riechen

Das verlorene Bücher-Paradies: Der Dokumentarfilm „Wir lesen noch / Antiquariat Bernhardt, ein Porträt“ kommt im Hamburger Metropolis zu seinre verspäteten Kino-Premiere

Von Wilfried Hippen

Der Titel klingt wie eine Kampfansage, wie trotziges „Wir lassen uns das Lesen nicht verbieten!“ Tatsächlich wird ja immer noch gelesen, aber eben online. Hier aber geht es gerade um die Kultur des analogen Lesens: um Bücher, die in Läden gekauft werden; um Bücherregale in Wohnzimmern; um alte Bücher, die gesucht, geschätzt und gesammelt werden. Ähnlich wie die Videotheken sterben die Antiquariate aus – beiden hat das Internet den Garaus gemacht. Nun ist es vielleicht nicht schade um die tristen Geschäftsräume, die mit VHS-Kassetten und DVDs vollgestellt waren. Aber Antiquariate haben eine lange Tradition, sind vielfach über Jahrzehnte gewachsen, bis sie oft scheinbar nur noch aus Büchern bestehen, in denen die Käu­fe­r*in­nen und Ver­käu­fe­r*in­nen klein und wie verloren scheinen; und so hat jedes seinen eigenen Charakter.

So auch das Antiquariat Bernhardt, für viele Ham­bur­ge­r*in­nen der schönste Secondhand-Buchladen der Stadt: 60 Jahre lang hatte er seinen Sitz im „City-Hof“in der Nähe des Hauptbahnhofs – bis der Bürohochhauskomplex 2018 abgerissen wurde. Die letzten Tage des Antiquariats dokumentierte Christian Grasse, indem er den Inhaber Torsten Bernhardt bei seiner Arbeit filme und Interviews mit dem Händler und einigen seiner Stamm­kun­d*in­nen führte. Den 43 Minuten langen Film verkauft Torsten Bernhardt nun in seinem neuen Laden in Hamburg-Eilbek als DVD für zehn Euro – auf einer großen Leinwand allerdings wird er jetzt zum ersten Mal gezeigt.

Torsten Bernhardt, dessen Vater schon den Laden geführt hatte, ist ein norddeutscher Stoiker mit passender Brummbärstimme, und er scheint jedes Buch in seinem Laden zu kennen. Seine Verkaufsgespräche sind es, die diesen Laden so besonders machen – besonders schick sah er weder von außen noch von innen aus. Doch sein Publikum besteht aus leidenschaftlichen Büchernärr*innen. Für sie ist der Kauf von Büchern wie eine Schatzsuche – und das Antiquariat Bernhardt wie ein Schatz am Ende des Regenbogens.

Dieses Lebensgefühl der Bibliophilen fängt Christian Grasse mit ruhiger, beobachtender Kamera ein. Torsten Bernhardt zeigt er als einen Besessenen, der ganz genau weiß: Es war keine gute Karriereentscheidung, als selbstständiger Antiquar sein Leben im teuren Hamburg fristen zu wollen. Aber auch wenn er sogar etwas anderes kann, will er es deswegen noch lange nicht. Menschen unter 50 Jahre verirren sich selten in seinen Laden, umso bemerkenswerter ist das Interview mit einer jungen Frau, die sagt: „Wenn ich alte Geschichten lese, muss ich auch alte Geschichten riechen können.“

Für die Kund*innen ist der Kauf von Büchern wie eine Schatzsuche – und das Antiquariat wie ein Schatz am Ende des Regenbogens

Am Schluss greift der ansonsten betont sachlich inszenierende Christian Grasse ein wenig in die Trickkiste, um den Abschied zu inszenieren: Kurz nacheinander wird da gleich zweimal der Laden zugemacht: einmal räumt Bernhardt die Bücherkisten vor den Schaufenstern ein und kurz danach wird dann auch das Licht im Laden ausgemacht. Die Musikerin Natsumi Echigo hat passend dazu eine elegische Klaviermusik eingespielt und danach bildet das Ausräumen der Ladenräume dazu einen faktisch kalten Kontrapunkt.

Herausgebracht hat Grasse seinen Film schon im Jahr 2018, und es wundert schon, dass er nicht weitergefilmt hat, denn er ist bekannt dafür, dass er seine Projekte nicht zum Abschluss bringen will und kann. Aber Bernhardts neuer Laden sowie seine Schwierigkeiten in der Pandemie haben Grasses Interesse als Filmemacher nicht mehr geweckt. Für ihn ist das „Exoticum“ des alten Ladens verschwunden – die Büchernärr*innen wurden aus ihrem Paradies vertrieben.

„Wir lesen noch / Antiquariat Bernhardt, ein Porträt“. Regie: Christian Grasse, Deutschland 2018, 43 Minuten.

Kinopremiere mit Christian Grasse und Torsten Bernhardt: Do, 7. 9., 17 Uhr, Hamburg, Metropolis

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