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Neues, Ungewohntes, Verstörendes

Bei Festivals mit experimenteller Musik gibt es Archaik und Folk auf Streich- und Saiteninstrumenten aus aller Welt zu hören, den Urschrei des europäischen Free Jazz, innerdeutsche Brückenschläge, improvisierte Klänge und ein fragiles Spiel mit Wagners Reizen

Von Robert Miessner

Wenn die Wissenschaft sich zu einem Thema nicht einig ist, muss es wichtig sein: Die Frage nach dem ältesten Saitenins­tru­ment wird verschieden beantwortet, die einen verorten es in Mesopotamien, die anderen in Frankreich. Auf jeden Fall rührt die Frage an das alte menschliche Grundbedürfnis nach Rausch und Zerstreuung: Ein Relief der Chakhil-i-Ghoundi Stupa, aus dem 2. bis 3. Jahrhundert in Hadda, Afghanistan, ein schönes Beispiel für Kunst ohne Reinheitsgebot übrigens, zeigt Menschen beim Wein und Tanz zusammen mit einer Lautenspielerin.

Aktuell hat die Berliner Improvisationsmusikerin Biliana Voutchkova ein ganzes Festival mit Musik für Streich- beziehungsweise Saiteninstrumente konzipiert, das DARA String Festival im Theater im Delphi in Berlin-Weißensee. Der Ort, ein ehemaliges Großraumkino, ist selbst historisch und diente als Kulisse für das Sündenbabel Moka Efti in „Babylon Berlin“.

Im fünften Festivaljahr setzt Voutchkovas Programm auf Geschichte und Gegenwart: Am Eröffnungsabend wird die Violinistin Voutchkova die Komposition „für biliana“ aufführen, ein Stück von Ernstalbrecht Stiebler, einem der Exponenten Neuer Musik. Stieblers Kompositionen sind modern und atmen dabei Archaik und Folk. Voutchkova hat für ihr Festival Musiker eingeladen, die sowohl die aus den Konzertsälen bekannten Instrumente wie die weniger gebräuchlichen, aber nicht minder spannenden mitbringen: Da ist beispielsweise Elshan Gashimi an der Tar, einer Langhalslaute aus Iran und Afghanistan, oder aber Miya Masaoka: Die Komponistin wird an der Koto zu hören sein, einem Saitenins­tru­ment aus der höfischen Musiktradition Japans.

Freunde experimenteller Musik könnten die Koto im Jazzkontext kennengelernt haben, auf einer der Duett-Aufnahmen des Bassisten Peter Kowald aus den achtziger Jahren. Kowald war 1968 einer der beiden Bassisten auf dem Album „Machine Gun“ des Peter Brötzmann Oktetts. Die Platte gilt als der Urschrei des europäischen Free Jazz und ist zuerst bei Brötzmanns eigenem Label BRÖ erschienen.

BRÖtz heißt folgerichtig das Wuppertaler „Festival für freie Musik“, das der Saxofonist und Klarinettist Peter Brötzmann noch kuratieren konnte. Im Juni dieses Jahres ist der Jazz­innovator gestorben. In einem letzten Interview mit der Zeit antwortete Brötzmann auf die nicht verkehrte Frage Reinhard Köchls, ob es den echten Free Jazz nur wenige Jahre gegeben habe: „Mir wurde spätestens Mitte der Siebziger klar, dass wir uns auf dem Holzweg befanden. Jeder hatte bis dahin gewusst, dass man Verantwortung übernehmen oder einfordern musste, wenn man auf eine Bühne ging. Genau dadurch entstand unsere Freiheit.“ Brötzmanns freie Musik klingt durchaus konstruktiv.

Die Besetzung des dreitägigen BRÖtz-Festivals steht für eine Offenheit, die nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte: Da wäre beispielsweise der Chicagoer Vibrafonist Jason Adasiewicz, der von Independent und Psychedelic zur improvisierten Musik fand. Die Schlagwerkerin Salome Amend kommt aus der zeitgenössischen Musik. Saxofonist und Mitkurator Wolfgang Schmidtke hat mit Karlheinz Stockhausen, Steve Lacy und Ginger Baker musiziert und ist beispielsweise auf der Jazzwerkstatt Peitz als eine der lautstarken Stimmen des Orchesters De Industrial zu hören gewesen.

Der Titel sollte wörtlich genommen werden. Eine Sängerin wie Almut Kühne war in jüngster Zeit mit dem Noise-Musiker Joke Lanz zu erleben, die Gitarristin Raissa Mehner kommt von der Krautrock/Noise/Jazz-Ruhrgebietsband The Dorf. Auch in Wuppertal dabei ist der Drummer Steve Noble, in den frühen Achtzigern bei der Postpunk-Band Rip, Rig and Panic mit einer jungen Neneh Cherry zu hören gewesen. „Neues und Ungewohntes, bisweilen auch Verstörendes“ verspricht das BRÖtz-Festival. Dass es Gründe dafür gibt, auch außermusikalische, weiß, wer noch Nachrichten liest.

Man muss Verantwortung übernehmen oder einfordern

Vorsicht allerdings vor schnellen Analogien: Alexander von Schlippenbach, Pianist und Jazzinnovator aus der Generation Peter Brötzmanns, äußert sich in einem Interview mit Johannes Kloth für die Sendung Musikwelt im Saarländischen Rundfunk vorsichtig, wenn es um den oft hergestellten Zusammenhang von Politik und Free Jazz geht. Schlippenbach verweist lieber auf Entwicklungen aus der Musik heraus. Nachhören lässt sich das Gespräch auf der Website des FreeJazzSaar – Verein für zeitgenössische Musik e. V., der seit 2015 den FreeJazzMarathon Saar veranstaltet. Eine ungeheuer rasante Reihe, finden die Konzerte doch verteilt über einen Tag statt. Das Festival ist ein innerdeutscher Brückenschlag, es bringt Saarländer Musiker wie den Posaunisten Christof Thewes und die Flötistin Claudia Hahn mit dem Gitarristen Olaf Rupp und dem Drummer Martial Frenzel aus Berlin unter ein Dach, das in diesem Fall das einer alten Kirche ist. Jazz, selbst wenn er von Solisten und Solitären kommt, ist eine Gemeinde.

Wie kommt da Richard Wagner ins Spiel? Mit dem Namen des Komponisten verbindet sich im günstigsten Fall ein granitener Ruf und zumindest nicht der, so etwas wie Swing zu haben. Wagner vom Pantheon auf die Barrikade zu holen – bevor er das antisemitische Pam­phlet „Das Judenthum in der Musik“ schrieb, hat Wagner immerhin an der Revolution von 1848 teilgenommen und anständig anschreiben lassen, also nicht alles falsch gemacht – scheint ein schwieriges Unterfangen zu sein.

Auf der diesjährigen Ausgabe des Konstanzer Jazzherbstes traut sich ein Trio: Der Klarinettist und Saxofonist Lömsch Lehmann, der Bassist und Sänger Matthias TC Debus und der Schlagzeuger Erwin Ditzner bringen ihr Programm „Die Motive des Richard W.“ an den Bodensee.

In der Ankündigung heißt es: „Im Jazz ist das Trio die ideale Verkörperung des Gleichgewichts im dreidimensionalen Raum, es repräsentiert die Idee des Gedankenaustauschs zwischen gleichberechtigten Partnern. Gleichzeitig handelt es sich um eine fragile Form, delikat bis zerbrechlich, kühl und konzentriert. Die Idee, musikalische Motive aus dem Schaffen von Richard Wagner aus der Perspektive eines Trios, das sich auf enorme Erfahrung im Bereich der gegenwärtigen und avantgardistischen Improvisationsmusik stützt, neu zu erfinden, ist jedenfalls eine Herausforderung.“

Dass es sich lohnt, sie anzunehmen, beweist ein Youtube-Clip des Trios auf der Suche nach den „geheimnisvollen Reizen“ von Wagners Kompositionen; was Lehmann, Debus und Ditzner finden, ist freimütige Kammermusik.

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