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Archiv-Artikel

Aus „Wir wollen raus“ wird „Wir bleiben hier“

CHRONIK Im September gründet sich das Neue Forum, Genscher steht auf einem Prager Balkon

Von ROLA

4. September 1989, Leipzig/Böhlen: Im Anschluss an das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche findet eine Demonstration von 1.200 Menschen statt. Sie skandieren: „Wir wollen raus!“ In Böhlen treffen sich Vertreter sozialistischer Oppositionsgruppen und verabschieden einen Appell „Für eine vereinigte Linke in der DDR“.

5. September, Westberlin: Heinrich Lummer, CDU-Rechtsaußen und Exinnensenator, gibt Kontakte zu Spionen aus der DDR zu.

8. September, Ostberlin: 116 Botschaftsbesetzer verlassen die Bonner Ständige Vertretung in Ostberlin. Sie wird für den Besucherverkehr geschlossen.

9. September, Wien/Budapest: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich für DDR-Bürger.

10. September, Ostberlin: Gründungsaufruf „Neues Forum“, Jens Reich ist einer der Erstunterzeichner.

12. September, Ostberlin: Als Folge der Fluchtbewegungen will Politbüromitglied Günter Mittag „das Loch Ungarn zumachen“. Stasiminister Erich Mielke befiehlt einen „Maßnahmeplan“, der vorsieht, dass alle Reiseanträge nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien zentral von der Stasi überprüft werden.

14. September: In Bonn gibt der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter die Gründung der DDR-Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ bekannt, die sich für eine „sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis“ ausspricht und unter anderem für Menschenrechte, Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und freie Wahlen in der DDR eintritt.

18/19. September, Leipzig: Die Volkspolizei sperrt die Zugangswege zum Nikolaikirchhof ab. Trotzdem gehen hunderte von Demonstranten im Anschluss an das Friedensgebet auf die Straße. „Wir bleiben hier!“, lauten die Sprechchöre und nicht mehr, wie in den zurückliegenden Wochen: „Wir wollen raus!“ Polizei und Stasi gehen zu Massenverhaftungen in der Stadt über. Zahlreiche Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler fordern Demokratisierung und Reformen.

19. September, Ostberlin/Eisenach: Das Innenministerium Nikolaikirchhof lehnt den Gründungsantrag des Neuen Forums mit der Begründung ab, es stelle eine „staatsfeindliche Plattform“ dar. Den Aufruf des Neuen Forums haben bis zu diesem Zeitpunkt 3.000 Menschen unterschrieben. Die Synode der Evangelischen Kirche in der DDR verabschiedet in Eisenach einen Beschluss, in dem sie eine pluralistische Medienpolitik, demokratische Parteienvielfalt, Reisefreiheit für alle Bürger, wirtschaftliche Reformen und Demonstrationsfreiheit als „längst überfällige Reformen“ einklagt.

20. September, Warschau: Die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau muss wegen Überfüllung geschlossen werden.

22. September, Ostberlin: Erich Honecker gibt sich uneinsichtig entschlossen, dass „alle Demonstrationen“ und „feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen“.

25. September, Leipzig: Auf der Montagsdemonstration in Leipzig fordern 5.000 bis 8.000 Demonstranten demokratische Reformen und die Zulassung des Neuen Forum.

25. September, Ostberlin: Verteidigungsminister Keßler bringt die Nationale Volksarmee befehlsmäßig für einen Einsatz in Berlin in Stellung.

27. September, Prag: Die ČSSR-Regierung erklärt, dass es für die mittlerweile über 900 Prager Botschaftsbesetzer „keine ungarische Lösung“ geben werde.

30. September, Ostberlin/Moskau/Prag: DDR lenkt im Prager Botschaftskonflikt auf sowjetischen Druck hin ein: Außenminister Genscher reist nach Prag und verkündet die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer. ROLA