Ausweitung
eines Begriffs

Für die New York Times ist es das bisher wichtigste Sachbuch des 21. Jahrhunderts: Isabel Wilkersons Analyse des Systems Kaste als universelle Grammatik von Unterdrückung

Martin Luther King im Jahr 1959 in Indien Foto: ap/picture alliance

Von Chris Schinke

Der US-Präsident Lyndon B. Johnson soll nach der Unterzeichnung der Bürgerrechtsgesetzgebung des Civil Rights Act im Jahr 1964 die Vorhersage angestellt haben, dass seine demokratische Partei die Südstaaten für eine ganze Generation verlieren würde. Johnsons Prophezeiung stellte sich im Rückblick nicht nur als zutreffend heraus, sie war sogar eine Untertreibung.

In den 50 Jahren seither hat bei Präsidentschaftswahlen kein US-Demokrat mehr eine Mehrheit der weißen Wählerstimmen erringen können. Besonders deutlich zeigte sich das Verhältnis bei der Wahl des Republikaners Donald Trump. Hatte zuvor noch Barack Obama als erster afroamerikanischer Präsident reüssiert, vollzog sich laut der US-amerikanischen Autorin und Pulitzerpreisträgerin Isabel Wilkerson mit dem Sieg des Republikaners und seinem Erfolg bei der weißen Wählergruppe ein gesellschaftlicher Backlash sondergleichen, ein Triumph der Ideologie der white supremacy, die auch eine Welle der Gewalt nach sich zog.

In ihrem neuen Buch geht die Autorin dem Phänomen nach, das sie dabei für grundlegend für den anhaltenden Erfolg reaktionärer und rassistischer Kräfte in ihrem Land hält – der Kaste. Den für US-Verhältnisse ansonsten nicht gebräuchlichen Begriff entlehnt Wilkerson dem hierarchischen Gesellschaftsgefüge Indiens, dessen kastenförmige Sozialstruktur seit Generationen bestimmend für die Bewohner des Landes ist. Aller Reformen zum Trotz.

Früh im Buch erzählt sie vom Indien-Besuch der Bürgerrechtsikone Martin Luther King, dessen Gastgeber im Afroamerikaner den Vertreter einer unterdrückten Kaste sahen, ganz ähnlich wie die indischen Unberührbaren, die Kaste der Dalit. Obwohl King sich bei seinem Besuch auch für die Reformen des im Jahr 1947 unabhängig gewordenen Landes und für dessen durchlässiger gewordene soziale Schranken interessierte, ist sein Erscheinen für Wilkerson Anlass, vor allem die Unveränderlichkeit des verknöcherten Kastensystems zu betonen und sie in einem nächsten Schritt auf das US-System zu übertragen.

Wesentlich für das Phänomen der Kaste – das über die Auswirkungen von Rassismus hinausgeht – sind für Wilkerson die Merkmale eines verborgenen Systems sozialer Vorherrschaft, in dem Äußerlichkeiten wie Hautfarbe zur Grundlage einer Werteinstufung werden. Das US-Kastenwesen versteht die Autorin dabei als ein fortgesetztes Erbe der Sklaverei. Mit ihr kommen im 17. Jahrhundert Vorstellungen von Menschenrassen auf, verfestigen sich und erfahren im 19. und 20. Jahrhundert in ihren biologistischen Ausformungen einen schrecklichen Höhepunkt. „Mit der Entstehung der Neuen Welt wurden die Europäer weiß, die Afrikanerinnen Schwarz und alle anderen gelb, rot oder braun.“

Wilkerson betont im Folgenden den regen Austausch amerikanischer und deutscher Pseudowissenschaften. Die Arbeiten der Rassentheoretiker Madison Grant und Lothrop Stoddard erfahren in Nazideutschland Rezeption. Andersrum prägt der Schädelforscher Johann Friedrich Blumenbach den in den USA heute noch geläufigen Begriff „Kaukasier“.

Wilkerson wendet den Kastenbegriff schließlich auch auf den NS-Staat an, in dem Juden eine vergleichbare Rolle als „Sündenbockkaste“ zukomme wie den Schwarzen in den USA. Die Autorin versäumt in ihrem 500 Seiten starken Band eine weitreichendere Analyse des Antisemitismus und seiner Rolle in der NS-Ideologie. Juden wurden hier nämlich nicht ausschließlich als unterlegene „Rasse“ imaginiert wie die amerikanischen Versklavten, sondern – im Sinne eines angenommenen Intellektualismus – als gerissene Manipulatoren, die aus gesellschaftlichen Elitepositionen heraus die vermeintlichen Geschicke der Menschheit bestimmten. Den exterminatorischen Charakter der NS-Judenverfolgung, der die Auslöschung des jüdischen Volks vorsah und nicht nur seine Unterwerfung, übergeht die Autorin.

Sie sieht aber in der heutigen deutschen Erinnerungskultur insgesamt ein Vorbild für den Missstand der nicht aufgearbeiteten Zeit der Sklaverei in den USA, wo noch immer Denkmäler wie die des Südstaaten-Generals Lee das Land überziehen.

Bereits in ihrem Buch „The Warmth of Other Suns“ zeigte die Autorin, wie die Sklaverei nach ihrer Abschaffung 1865 durch die Jim-Crow-Gesetzgebung in legalem Terror und alltäglichen Lynchmorden fortlebte. Die Verhältnisse im Süden hatten eine massive Welle der Binnenflucht zur Folge.

Die Stärken von Wilkersons neuer Arbeit „Kaste“ zeigen sich in ihrer Kulturkritik und Gesellschaftsbetrachtung. Die soziale Hierarchie, die das Ausbeutungsverhältnis der Sklaverei einführte, ist auch heute noch im gesellschaftlichen Unterbewusstsein der Vereinigten Staaten wirksam. Und zeigt sich im Alltag.

Isabel Wilkerson: „Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens“. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Kjona Verlag, München 2023, 576 Seiten, 36 Euro

Wilkerson verweist auf düstere Kontinuitäten: Polizeigewalt, der fortgesetzte Versuch der Republikaner, Schwarze von den Wahlurnen fernzuhalten sowie massive Bildungsungerechtigkeiten. Platz für hoffnungsvolle Zukunftsszenarios sieht die Autorin tatsächlich wenig. In einer Welt nach Trump läuft es Wilkerson zufolge auf die Zuspitzung „Weißsein oder Demokratie?“ hinaus.

Die Anwendung des Kastenbegriffs auf das gesellschaftliche Gesamtverhältnis der USA erweist sich dabei jedoch als ein etwas starres Konzept, dem reale Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sowie ein langsamer, aber doch steter Gesellschaftswandel bisweilen entgegenstehen.

Hoffnungsvoll zeigt sich die Autorin schließlich in ihrem Konzept der radikalen Empathie. Durch ein konsequentes Denken an der Stelle des Anderen hält Isabel Wilkerson eine Welt ohne Kaste grundsätzlich für möglich.