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Der Körper in Polizeigewahrsam

Performance als Kritik an der Diktatur: „Solidarity Treffen“ mit Künst­le­r:in­nen, die aus Belarus ins Exil gegangen sind, begleiten das Theatertreffen

Von Katja Kollmann

„The subscriber is not available now. Please call later“, wiederholt eine weiblich inspirierte Computerstimme stoisch in der abgedunkelten Kassenhalle im Haus der Berliner Festspiele. In der einzigen ausgeleuchteten Ecke kauert am Boden Igor Shugaleev, Schauspieler aus Belarus. Er kniet auf dem harten Steinboden, seinen Kopf presst er an Boden und Wand, seine Hände hat er über dem Rücken verschränkt. Die Stimme des Anrufbeantworters wird akustisch flankiert durch das Ticken eines Sekundenanzeigers. Die Stoppuhr-Anzeige an der Wand steht auf 58 Minuten und 32 Sekunden. So lange wird Igor Shugaleev noch in seiner Position ausharren.

35 Mal hat er die Performance „375 0908 2334 The body you are calling is currently not available“ seit ihrer Premiere am 24. Juli 2021 schon gezeigt. Sehr oft in seinem Exilland Polen, aber auch in den baltischen Staaten, Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Italien und in Dresden, München und Düsseldorf. In Berlin wird Shugaleevs Performance im Rahmen des Belarus-Schwerpunktes des Thea­tertreffens neben Jana Shostaks einminütigen Schrei gegen das Schweigen „1 minute scream“ gezeigt. „Solidarity Treffen – Menschen ohne Land. Land ohne Menschen“ betitelt das Theatertreffen (TT) den Programmpunkt, der zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung entwickelt wurde und in einer Podiumsdiskussion Shugaleev und weiteren belarussischen Kulturschaffenden im Exil die Möglichkeit zum öffentlichen Diskurs gibt.

In der dunklen Kassenhalle kann man Shugaleevs Gesicht studieren, das man durch seine Beine hindurch sehen kann. Die Partie der Augenbrauen wird durch seine Körperhaltung seltsam eingedrückt, genauso erscheinen die Augen selbst. Das Gesicht ist schon nach einigen Minuten eigenartig gerötet.

Shugaleev schweigt. Nach einigen Minuten schaltet die Videokünstlerin Aleksandra Konoschenko eine Audioaufnahme ein. Es ist Shugaleevs Stimme, die nun zehn Minuten über die politische Situation in seiner Heimat von 2020 bis heute spricht und dabei auch sehr persönliche Erfahrungen schildert.

Besonders bewegend ist der Teil des Textes, in dem er erklärt, dass man als Belarusse/Belarussin von Schuldgefühlen geplagt wird, weil es einem besser geht als anderen. Zum Beispiel: Man wurde (noch nicht) verhaftet, man wurde in der Haft nicht so schlimm gefoltert wie andere und vor allem, man ist im Exil in Sicherheit. Ein Schuldsyndrom, das bei Holocaust-Überlebenden das erste Mal umfassend analysiert wurde.

Shugaleev erläutert, dass die Haltung, die er einnimmt, typisch ist für eine Zwangsstellung, die die in Belarus Verhafteten in der Regel über Stunden einnehmen müssen. Er illustriert das durch ein kurzes Video aus einem belarussischen Polizeigewahrsam und kommt nun auf die symbolische Telefonnummer im Titel seiner Performance zu sprechen: 375 ist die Landesvorwahl von Belarus, 0908 steht für den 9. August 2020, den Tag der Präsidentschaftswahl und den Beginn der Proteste, 2334 bezeichnet ein Gesetz in Belarus, nachdem Demons­trie­rende strafrechtlich verfolgt werden können. (Bis heute wurden so über 40.000 Belarus­s*in­nen verurteilt.) Wurde jemand verhaftet, ist er in der Regel auf seinem Handy telefonisch nicht mehr erreichbar.

Stille tritt wieder ein, hart durchschnitten durch den elektronischen Sekundenton. Noch 45 Minuten muss Shugaleev diese Stellung halten. Das einzige Körperteil, das er von Zeit zu Zeit bewegt, sind seine Finger, oft parallel zum Sekundentakt. Und seinen Mund, der immer wieder aufklappt. Es scheint, als wolle sich gerade dieser immer wieder neu gegen diese völlig unnatürliche Körperhaltung auflehnen. Aleksandra Konoschenko platziert die Kamera an verschiedenen Orten, so dass man Shugaleevs Gesicht, seinen gespreizte Füße und seine überkreuzten Hände in Großaufnahme sehen kann. Lebendige Skulpturen einer Zwangshaltung. Shugaleev aber bleibt nicht allein. Über die Stunde hinweg nehmen vier Zu­schaue­r*in­nen in einer Geste der Solidarität mit ihm und den Gefangenen in Belarus dieselbe Stellung an der Wand ein. In den letzten zwanzig Minuten entsteht ein Dialog über die jeweiligen Erfahrungen in dieser Körperhaltung. Mitzuerleben ist, wie fünf Individuen zu einer (temporären) Solidargemeinschaft werden.

Wem es besser geht als anderen, wird von Schuldgefühlen geplagt

Um die belarussische Solidar- oder Fürsorgegemeinschaft geht es in der Podiumsdiskussion mit Shugaleev, der Philosophin Olga Shparaga und der Kuratorin Antonina Stebur. Ihre Geschichte begann mit der Bildung von praktischen Solidargemeinschaften in den Nachbarschaften zum Beginn der Coronapandemie (Lukaschenko negierte die Pandemie). Sie wurden essenziell, als im Mai 2020 in einigen Bezirken in Minsk das Trinkwasser verseucht war – und die Behörden schwiegen.

Diese Solidargemeinschaften waren also bei Beginn der Proteste im August 2020 schon gebildet. Shparaga erklärt das mit dem Willen in der Bevölkerung, konkrete politische Verantwortung zu übernehmen. Stebur macht aufmerksam auf die (in den Medien) nicht sichtbaren Handlungen, die bis heute so eminent wichtig sind. Für Shugaleev ist wichtig „aktiv und bewusst in diesem Kontext zu bleiben“.

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