Isolde Charim
Knapp überm Boulevard
: Die Mitte ist nicht die Unschuld, sondern die Herrschaft eines gewissen Maßes

Was ist das, was der Gesellschaft in immer steigendem Maße widerfährt: Spaltung? Radikalisierung der Mitte? All das sind Ausdrücke dafür, dass etwas in Bewegung gerät.

Was man aber nicht vergessen darf: Die politische Mitte ist nicht gleichzusetzen mit Vernunft. Die Mitte ist nicht die Unschuld, sondern die Herrschaft eines gewissen Maßes. Was derzeit erodiert, ist die politische Form, die solcher Mitte entspricht: die Konsensdemokratie.

Seit dem Ende des Kalten Krieges galt das demokratische Ideal einer relativ einheitlichen Gesellschaft, die sich gänzlich in der Gegenwart situiert. Das bedeutet das Aufgeben aller Utopien zugunsten der nüchternen Anti-Utopie einer vernünftigen Verwaltung. Damit wurde der Fokus der Demokratie verschoben: von der demokratischen Gleichheit hin zur demokratischen Ordnung. Ordnung im Sinne eines möglichst reibungslosen Zusammenspiels von staatlichen Institutionen und Gesellschaft.

Solche Konsensdemokratien tendieren in Richtung einer aufgeklärten Oligarchie, also der Herrschaft einer politischen Klasse, die mehr oder weniger offen, mehr oder weniger am Gemeinwohl orientiert ist. Und eben diese Übereinkunft erodiert. Angesichts der Häufung von äußeren Krisen gelingt diese Art der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte immer weniger.

Eine Krise entsteht dann, wenn eine Gesellschaft Einbrechendes, Unvorhergesehenes nicht verarbeiten kann. So wurde etwa Corona nicht durch das Virus zur gesellschaftlichen Krise, sondern durch das teilweise Misslingen eines gemeinsamen Umgangs: keine allgemeine Akzeptanz der Maßnahmen. Ein latent vorhandenes Misstrauen wurde dabei manifest. Mehr noch: Ein grundlegendes, verbreitetes Nicht-Wiedererkennen im Staat wurde akut. Genau da beginnen die Probleme der Konsensdemokratie. Und genau das ist auch das Einfallstor für Verschwörungstheorien. Denn die Macht wird von vielen als nicht eigene, sondern als fremde empfunden. Dass sich dies zur Feindschaft steigert, dass Institutionen – Staat, Politik, Medien – als „Feinde“ erscheinen, ist die verzerrte Darstellung dieser Fremdheit. In solchen „Feinden“ erhält das eigene Unbehagen eine Gestalt. Sind das die berühmten einfachen Antworten? Nein, es sind einfache Formen, die die nicht mehr eingebundenen Emotionen annehmen. Es sind Symptome eines Nicht-Funktionierens.

Verschwörungstheorien greifen dann, wenn Autoritäten nicht mehr akzeptiert, wenn sie nicht mehr als vernünftig angesehen werden. Dann wenden Menschen sich einer Ersatz-Vernunft zu. Und genau das sind Verschwörungstheorien: eine Mimikry, eine Nachahmung von Vernunft. Eine Simulation von Aufklärung. Sie versammeln alle ihre Momente: Misstrauen, Skepsis, Kritik an den Autoritäten. Aber all dies im Überschuss: Aus einer berechtigten Kritik wird eine überschießende. Aus einem skandalgenährten Misstrauen wird ein grundsätzliches. Aus Politik als Handlungsmacht wird die paranoide Vorstellung einer Weltherrschaft. Vernunft verklärt sich in ihr Gegenteil.

Eine Als-ob-Aufklärung, die eigentlich etwas anderes ist: Probabilismus. So nannte Hegel eine Art der Willkür. Ein Vorgehen, wo man die eigenen Argumente in Stellung bringt gegen die allgemeinen. Wo man abweichende Autoritäten sucht, um die eigenen Vorstellungen und Meinungen zu bestätigen. Alternative Experten für alternative Fakten. Beides aber, Argumente und Autoritäten, sind nur probabel, also nur wahrscheinlich. Aber das reicht für solche Als-ob-Aufklärung. Sie hat damit eine „Spur von Objektivität“. Tatsächlich aber ist dies eine Form, die eigene Überzeugung zur absoluten zu machen. Mehr als ein Einspruch ist es ein „Austreten“, ein „Abwenden“ vom Staat, ein „Abdriften“ aus der Gesellschaft. Und eben das erfasst immer weitere Kreise. Wenn das eine Polarisierung, eine Radikalisierung der Mitte ist, dann muss man darin ein Symptom sehen – den verzerrten Ausdruck für ein grundlegendes Problem: für das Brüchigwerden des Gesellschaftsvertrags.

Isolde Charim ist freie Publizistin in Wien.