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Oldie im Genießermodus

Nachdem Überradler Remco Evenepoel wegen einer Corona-Infektion den Giro verlassen musste, fährt nun Altmeister Geraint Thomas in Rosa durch Italien

Reif und bissig: Geraint Thomas beim Zeitfahren am Sonntag Foto: reuters

Aus Viareggio Tom Mustroph

Schon viel hat Geraint Thomas erlebt in seinem Rennfahrerleben. Er wurde als Ersatzmann Tour-de-France-Sieger und hat auch andere hübsche Rennen gewonnen wie die Dauphiné-Rundfahrt oder Paris–Nizza. Als ganz junger Rennfahrer gewann er mal die Bayernrundfahrt. Da muss man als Rennfahrer schon älter sein, um die überhaupt erlebt zu haben. 2015 wurde sie zuletzt ausgetragen, weil selbst dem rührigen Ewald Strohmeier, im letzten Jahr Streckenchef des Straßenrennens im Rahmen der ziemlich erfolgreichen European Championships in München, kein Hauptsponsor mehr Geld in die Hand drücken wollte. Also, dieser Geraint Thomas, fast 37 Jahre alt, der einst Rennen gewann, die es längst nicht mehr gibt, darf auch einmal ein Debüt feiern.

Am Dienstag zog er erstmals das Rosa Trikot der Italienrundfahrt an. Es war ein besonderer Moment für ihn. Vier Mal hat er bereits am Giro d’Italia teilgenommen. Zwei Mal war er angereist als großer Favorit, stieg dann aber wegen Stürzen, Entkräftung, Frustration und Schwächen beim Abwärtsfahren wieder aus. Eine Etappe gewann er nie. Vier Mal Zweiter wurde er bei Zeitfahren. Am letzten Sonntag wurde er um winzige neun Hundertstel Sekunden von Remco Evenepoel geschlagen. Der hatte da schon Corona. Deshalb auch nur wurde es wohl so knapp. Man kann es auch so herum sagen: Nicht einmal gegen einen mit Covid infizierten Berufskollegen kann Thomas ein Zeitfahren beim Giro gewinnen.

Dennoch durfte er sich Rosa überstreifen. Denn Evenepoel, Dominator der ersten neun Tage in Italien, musste abreisen. „Ein Routinetest des Teams ergab ein positives Resultat. Ich bin sehr traurig, dass ich abreisen muss. Ich habe aber ganz besondere Momente erlebt“, teilte er bei seinem Ausstieg mit. Das Procedere ist ungewöhnlich. Denn nicht die Organisatoren und auch nicht der Weltverband UCI, sondern das eigene Team nahm ihn aus dem Rennen. „Wir wissen nicht, was unter der Haut vorgeht“, begründete mit einer seltenen Mischung aus Pragmatismus und Poesie Rennstallchef Patrick Le­fevere die Entscheidung. Sie verdient Respekt. Denn Evenepoel stand für sich und seinen Rennstall vor einem historischen Moment. Er hätte im Weltmeistertrikot den Giro gewinnen können. Das gelang zuvor nur drei weiteren Rennfahrern. Natürlich Eddy Merckx, außerdem noch den Italieners Alfredo Binda und Giuseppe Saronni. Das letzte Mal, mit Saronni, ist schlappe 40 Jahre her.

Für den Rennstall Soudal Quick Step wäre es in der 20-jährigen Teamgeschichte auch der erste Giro-Sieg gewesen und der zweite Grand-Tour-Sieg überhaupt nach Evenepoels Vuelta-Coup im letzten Jahr. Der Gesundheit des Rennfahrers wurde trotzdem höhere Priorität beigemessen.

Der neue Führende war verständlicherweise von widerstreitenden Gefühlen übermannt. „Es ist gar nicht schön, das Trikot auf diese Weise zu bekommen. Ich hatte mich schon sehr auf einen Kampf mit Remco und all den anderen in den nächsten zwei Wochen gefreut“, sagte Thomas. Das Trikot wollte er dennoch überstreifen. Zum ersten Mal spannt es auf seinen Schultern. Das Rosa Trikot müsse im Peloton zu sehen sein, begründete er am Ruhetag seine Wahl, es auch zu tragen – und sich für die Tradition und gegen die Hommage an den unglücklichen Rivalen zu entscheiden.

„Zum Ende der Karriere genießt du die Rennen, die du noch fährst, einfach ein bisschen mehr“

Geraint Thomas, Altmeister

Ihm steht im späten Radsportalter von fast 37 Jahren – Geburtstag feiert er auf der 18. Etappe, wenn es durch den Nationalpark der Dolomiten geht – der Weg zum Giro-Triumph offen. Denn sein Team Ineos Grenadiers ist bei diesem Giro das stärkste. Drei Mann sind unter den Top 10, fünf Mann unter den Top 20. „Wir können viele Karten spielen“, sagte Thomas zu Recht.

Das Kreuz-Ass im Blatt ist er selbst. Er führt nicht nur den Giro an, drei Sekunden vor dem Hauptrivalen Primož Roglič, fünf Sekunden vor seinem Teamkameraden Tao Geoghegan Hart. Er strahlt auch eine altersweise Ruhe und Gelassenheit aus. „Wenn sich das Ende deiner Karriere nähert, dann wird dir erst bewusst, wie viel Glück du eigentlich gehabt hast, dass du diese ganzen Rennen hast fahren können. Und du genießt die Rennen, die du noch fährst, einfach ein bisschen mehr“, sagte er am Ruhetag. Der Oldie aus der einstigen Malocherstadt Cardiff ist im Genießer-Modus. Das ist nicht schlecht, wenn es durchs Wein-, Pasta- und Saltimbocca-Land Italien geht. In die Rolle des ersten Spielverderbers drängt sich allerdings der nur drei Jahre jüngere Roglič. Auch der ist, das Karriereende bereits vor Augen, im Genießer- wie im Siege-Mitnehm-Modus.

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