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berliner szenenDas Kabel, das zu kurz ist

Seit mehr als einem Jahr ist M. im Pflegeheim. Im Winter war er dreimal auf der Intensivstation. Eigentlich kann man kaum noch was machen. Die Pflegekräfte sind nett und sagen manchmal „mein Prinz“ zu ihm. Weil er die Geräusche des Mitbewohners nicht mehr ertragen konnte, war er vor ein paar Wochen in ein anderes Zimmer verlegt worden, das den Bewohnern mehr Privatheit ermöglicht. Der Mann, mit dem er dort zusammen wohnte, starb vor anderthalb Wochen. Der neue ist in M.s Alter, also Mitte sechzig.

Ich trage eine Maske wegen Grippe. M. schläft mit Brille, Kopf zurückgelehnt, Mund halb offen. Sein Fernseher läuft, der des Mitbewohners auch. Ich sitze eine Weile da, dann tippe ich ihn an. Es dauert eine Weile, bis er reagiert. Dann schließt er die Augen wieder. Nach ein paar Minuten tippe ich ihn wieder an. Mit schwacher Stimme nimmt er mich zur Kenntnis. Ich stelle das Bett vorsichtig hoch und WDR-Radio im Fernseher an. Schalke liegt 0:2 zurück. Wir reden über Fußball. Dass Bayern gestern verloren hat, ist schön. Also auch, dass er sich daran erinnert. Mit einem Sieg könnte Schalke auf den drittletzten Tabellenplatz klettern. Ich berichte von der Schach-WM in Astana. Zum Schachspielen ist er zu schwach.

Eine Pflegerin schaut vorbei und fragt, ob M. etwas essen möchte. Nein, er hätte keinen Appetit. Sie sagt, später musst du wenigstens ein bisschen was essen, sonst kommen die Tabletten wieder hoch. Ich esse M.s Kuchen. Der Fernsehton des Zimmergenossen stresst zusehends. Ich frage ihn, ob er leiser machen kann. Er entschuldigt sich, dass er nicht mit Kopfhörer guckt. Irgendwas am Kopfhörer sei kaputt. Ob ich nicht mal gucken könne? Das Kabel ist ein paar Meter zu kurz.

Wir reden wenig, im Radio verliert Schalke 0:4. Dann geh ich wieder.

Detlef Kuhlbrodt

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