Erdbeben und Wahlen in der Türkei: „Warten mit angehaltenem Atem“

Wie es um die Stimmung in der Türkei nach dem Erdbeben steht und warum die Menschenrechtsaktivistin Tülin Duman den Wahlen am 14. Mai hoffnungsvoll entgegenblickt, ein Gespräch anlässlich des taz lab 2023.

Viel mehr Hilfe wäre im Erdbebengebiet nötig gewesen und fehlt bis heute, sagt Tülin Duman. Foto: Boris Roessler dpa

taz lab, 29.04.2023 | Von ALI ÇELIKKAN

taz lab: Frau Duman, das Erdbeben am 6. Februar hat in der Türkei und in Syrien enorme Zerstörungen angerichtet. Ihre Heimatstadt Antakya ist vom Erdbeben besonders schwer getroffen. Wie stark sind Sie betroffen?

Tülin Duman: Meine ganze Großfamilie ist dort; das Haus, das Familiengrab, alles. 85 Prozent der Stadt ist verwüstet. Meine Mutter und meine Schwester lebten dort, sie haben überlebt, mit leichten Verletzungen. Meine Cousins, Schulfreunde und viele Menschen, die wir kannten, sind ums Leben gekommen. So viele Menschen.

Am ersten Tag fühlte es sich wie eine Katastrophe an. Sobald jedoch klar war, dass es keine Rettungsaktionen gibt und der Staat nicht in der Lage ist, die Katastrophenhilfe zu koordinieren, fing es an, sich wie ein Massaker anzufühlen. Die Wut darüber hat man gespürt. Eine Naturkatastrophe ist eine Sache, aber offensichtlich unterlassene Hilfeleistung ist etwas anderes.

ist eine Queer- und Menschenrechtsaktvistin, die sich seit vielen Jahren in diversen Projekten gegen Sexismus, Homo- und Transphobie sowie gegen Rassismus engagiert.

Foto: @Hassan

Jenseits des Staates gab es starke Mobilisierung und Solidarität. Was sagen Sie zu der Hilfe, die von hier aus geleistet wurde, und zur Selbstorganisation vor Ort?

Meine Familie hat die ersten vier Nächte im Auto verbracht. Niemand hat geholfen. Die ersten, die kamen, waren nicht von der türkischen Hilfsorganisation Afad. Ich habe einigen Bekannten den Standort meiner Familie geschickt und die sind ihnen zu Hilfe geeilt. Alle haben sich zivilgesellschaftlich selbst organisiert. Politisch engagierte Menschen aus der ganzen Türkei sind zu den betroffenen Gebieten gefahren. Auch ich bin am fünften Tag nach Istanbul geflogen und habe dort meine Familie abgeholt. Viele Menschen haben sich geopfert, um Hilfe zu leisten. Geopfert, denn Nachbeben dauerten an. Trotzdem war die Hilfe nicht ausreichend.

Was hat gefehlt?

Bagger zum Beispiel, die für Bergungsarbeiten nötig sind. Viele haben mit eigenen Mitteln Bagger besorgt, damit ihre Angehörigen ausgegraben werden können. Aber es gab niemanden, der sie bedienen konnte. Solidarität ist sehr wichtig. Auch die kleinste Hilfe ist wertvoll, aber reicht das aus? Nein. Die ganze Stadt wurde zerstört. Viel mehr Hilfe wäre nötig gewesen und fehlt bis heute.

Was für langfristige Folgen wird dieses Erdbeben haben?

Unser Leben ist nicht mehr das, was es vor dem Erdbeben war. Manche nennen es die „Katastrophe des Jahrhunderts“. Ich glaube, das genaue Ausmaß der Zerstörung wurde hier in Deutschland nicht verstanden: „Oh, es gab ein Erdbeben, gute Besserung“, hieß es. Noch heute gibt es Vermisste. So viele Menschen, die all ihre Angehörigen verloren haben und traumatisiert sind.

Was für politische Auswirkungen werden all diese Geschehnisse haben und werden sie die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen beeinflussen?

Anfangs dachte man, dass die Regierung nicht weitermachen könnte nach all dem, was passiert ist. Es gibt den großen Wunsch, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Regierung ist nicht nur inkompetent, was die Koordination der Katastrophenhilfe angeht, viele versuchen Profit aus der Katastrophe zu schlagen. In einer multikulturellen Stadt wie Antakya werden Araber, Armenier und Kurden immer noch diskriminiert und ausgeschlossen.

Ich hoffe, dass sich am 14. Mai etwas ändern wird. Das Land soll sich von diesen Leuten befreien. Aber auch wenn die Regierung abgewählt wird, haben wir einen langen Weg vor uns. All diese Probleme, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind, müssen wir überwinden. Wir werden für ein solidarisches Miteinander sorgen.

Glauben Sie, dass Erdoğan bei den Wahlen verlieren wird?

Wir warten mit angehaltenem Atem. Sollte sich trotz der jüngsten Ereignisse nichts ändern, dann wird es einen sehr schweren Zusammenbruch geben. Wir werden unser Bestes tun, um dies zu verhindern; wir werden nicht einfach abwarten. Ich selbst bin bei der Partei der Grünen Linken (ehemals HDP) aktiv. Ich bin deutsche Staatsbürgerin, bin selbst nicht wahlberechtigt, aber kenne viele Menschen, die wählen werden. Auch hier, allein schon in Berlin, gibt es eine große Wählerschaft.

Welche Auswirkungen werden die Wahlergebnisse auf die hiesige Community haben?

Es gibt Leute, die sich bereits auf ihre Rückkehr in die ­Türkei vorbereiten. Vor allem viele Neuangekommene, die wegen rechtlicher Probleme im Exil leben und nicht zurückkehren können, haben große Hoffnung. Ich auch. Wir müssen unseren Glauben, unsere Zuversicht und unser Vertrauen behalten.

Woran glauben Sie und worauf vertrauen Sie?

Ich vertraue auf das Gewissen der Menschen. Sie haben ­wirklich verstanden, was bei dieser Katastrophe passiert ist, dass es sich nicht nur um ein Erdbeben handelte, sondern auch um Fahrlässigkeit der Regierung. Auch die Verarmung, die durch die hohe Inflation extrem geworden ist, wird Auswirkungen haben.

🐾 Aus dem Türkischen von Sinem Vardar

Tülin Duman auf dem taz lab: Alles nur Kısmet? Eine Veranstaltung der taz Panter Stiftung.

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