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Wohnen auf einem Lebenshof Zuerst Menschen, dann Tiere?

Hilal Sezgin lebt mit ihren Tieren auf einem Lebenshof. Doch wie ist das, wenn man Tiere ernst nimmt? Von der Schwierigkeit, Privilegien aufzugeben, und den Utopien des Zusammenlebens.

Das familiäre Zusammenleben bietet hier Tieren Freiheit von Ausbeutung und Missbrauch. Anne Strotmann

taz lab, 13.04.2023 | Von NISA EREN

taz lab: Frau Sezgin, das Thema Tierethik ist schon lange präsent, gibt es neue Erkenntnisse?

Hilal Sezgin: Für die jüngere Generation ist Tierethik vielleicht schon immer da ­gewesen. Doch als ich vor 16 Jahren auf der Meinungsseite der taz über Tierrechte geschrieben habe, bekam ich zwar Unter­stützung, aber es war neu. Man hat im ­Kultur- oder Politikbereich ­damals nicht über Ge­rechtigkeit gegenüber Tieren geredet. Die Frage musste erst etabliert ­werden. Es ist für jede politische Bewegung wichtig, die ­grundlegende ­Ungerechtigkeit überhaupt sichtbar zu machen. Dass wir das geschafft haben, ist bis heute der größte ­Fortschritt der Tierrechtsbewegung.

Worum dreht sich Tierethik heute?

Hilal Sezgin

ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitet als freie Autorin für die taz, die Zeit und die Süddeutsche Zeitung sowie als Feuilletonistin für die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung. Die studierte Philosophin schreibt Bücher über Tierethik, den Islam und Feminismus. Gerade erschien ihr Buch "Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren" im Knesebeck Verlag. In der Lüneburger Heide führt sie einen "Lebenshof" mit zahlreichen Tieren.

Die Basics – also Tiere nicht töten und nicht einsperren – sind ethisch eigentlich klar, finde ich. Aber wenn man Tiere so weit ernst nimmt, eröffnen sich unzählige weitere ethische Fragen: Wie teilen wir uns die Welt insgesamt? Gehören die Städte nur uns? Wie gehen wir im Umweltschutz damit um – schützen wir nur unsere Umwelt oder ist es nicht auch die der Tiere? Das sind aufregende Fragen, manchmal auch beunruhigende, weil die Antworten noch nicht da sind.

Kommt man bei Ethikfragen irgendwann an den Punkt, an dem je­de*r ein anderes Verhältnis dazu hat?

Das Problem hat man bei allen politischen Differenzen. Man versucht, starke normative Argumente vorzubringen, und der*­die Andere akzeptiert sie oder nicht. Wir müssen in einer Demokratie um Mehrheiten ringen. Natürlich ist es enttäuschend, wenn diejenigen, die man eigentlich für Verbündete hält, Menschen, die für mehr Gerechtigkeit sind, dann genau da eine Grenze ziehen.

Warum tun sie das?

Wir leben in einer speziesistischen Gesellschaft, die auch durch starke zwischenmenschliche Hie­rarchien geprägt ist. Wir sind es gewohnt, dass manche weniger zählen als andere. Die „allgemeinen Menschenrechte“ gelten ja nicht wirklich: Die Rechte der Kinder in afrikanischen Minen zählen nicht wie die unserer Kinder. Bei Tieren sind wir es auch gewohnt. Es ist schwer, das aufzubrechen. Das ist so zwischen Männern und Frauen und zwischen Eu­ro­päe­r*in­nen und allen anderen oder eben auch gegenüber Tieren. Privilegien abzugeben ist einfach schwierig.

Privilegien woher?

Die letzten Jahrhunderte wurde die Vorrangstellung des Menschen so herausgehoben, auch um Tiere benutzen zu können. Man hat den großen Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren betont, damit man sie zum Beispiel für Tierversuche verwenden kann. Das Gefühl, über etwas zu stehen, gibt uns einen Kick. Derzeit definieren wir uns darüber, dass wir uns von anderen Tieren abgrenzen. Wir könnten aber auch sagen, wir sind keine Maschinen, keine KI oder keine Monster. Wir könnten uns darüber definieren, dass wir mitfühlende Wesen sind.

Liegt Sexismus und Rassismus auch diese abwertende Abgrenzung zugrunde?

Da gibt es interessante Überschneidungen. Die momentane Tierrechtstheorie wird viel aus postkolonialen Gedanken gespeist. Einer ist, dass der Begriff „Mensch“ nie wirklich inklusiv gemeint war. Er gibt sich universal, meint aber immer nur Bestimmtes. Und die Idee, dass man das beliebig ausweiten kann, widerspricht womöglich der Logik des exklusiven Begriffs. Der Begriff des Menschen lebt parasitär davon, dass er andere niedertritt. Andere Menschen, andere Geschlechter und eben andere Spezies. Da gibt es starke strukturelle Ähnlichkeiten, die mich erschüttern.

Wie begegnen Sie dem Argument, dass wir zunächst Gleichberechtigung unter Menschen etablieren sollten, bevor wir unsere Kapazitäten den Tieren widmen?

Das Argument „zuerst Menschen, dann Tiere“ finde ich gerade für politische Aktivist*innen total unplausibel. Politische Aktionen und Bewegungen müssen immer an verschiedenen Punkten ansetzen. Es ist ja auch bei menschlichen Belangen nicht so, dass wir uns alle zuerst auf das allerschlimmste Übel stürzen müssen und uns erst dann verhältnismäßig privilegierteren Fragen widmen dürfen. Plausibel ist, dass diese Fragen zusammenhängen. Sie haben eine gemeinsame Struktur.

Menschen fühlen sich eben zu verschiedenen Themen hingezogen und auch zu verschiedenen Formen von Aktivismus. Erstens sind wir unterschiedliche Temperamente, zweitens sind auch die Menschen, die uns zuhören, unterschiedlich. Die einen wollen mit freundlichen Geschichten abgeholt werden, die anderen mit schockierenden Bildern und die dritten hören es nur, wenn man sich vor ihr Auto klebt. Wir sind alle unterschiedlich, und es gibt keinen Masterplan der Befreiung, sondern ich finde, politische Bewegungen müssen heterogen sein, mit vielfältigen Ausdrucksformen und Themen.

Aber wie gehen wir damit um in einer Gesellschaft, in der es normalisiert ist, dass wir um Anerkennung und Gehör konkurrieren müssen?

Da werden wir, glaube ich, nicht rauskommen. Man kann ein bisschen was an den Modi ändern, wie wir miteinander umgehen. Aber ja, es ist ein Ringen und Kämpfen und das hat eine negative Seite. Ich finde auch immer, wir müssen ein bisschen gnädig mit uns sein.

Man hört oft „Die Linken zerfleischen sich selbst“ – naja, da, wo es um viel geht, ist es klar, dass man sich zerfleischt, eben weil viel auf dem Spiel steht. Und man sollte dem vielleicht ein bisschen Milde und Weichheit entgegensetzen, wo auch immer man die herholt. Für mich kommt sie aus spiritueller Praxis. Aber man muss beides: Man muss sich zäh in seiner Sache verbeißen und man muss dann aber auch wieder loslassen, um dazu zu lernen, die anderen zu sehen und mit den anderen was Schönes zu erleben.

Wie nah kommt der Lebenshof einer „Utopie des Zusammen­lebens“?

Er bietet die Freiheit von Missbrauch und Ausbeutung, wir gehen freundschaftlich mit den Tieren um, das Zusammenleben hat familiäre Züge. Aber auch ich bin in einer speziesistischen Gesellschaft aufgewachsen, und wir Menschen sitzen am längeren Hebel, was Technik und Medizin angeht. Wie geht man mit dieser Asymmetrie um und achtet dabei trotzdem das Tier?

Es ist schwierig, positive Utopien zu formulieren. Wir sehen vor allem, was falsch ist und wovon wir weg wollen. Von da aus können wir überlegen, wie es besser wäre, und dadurch eine Ahnung von Utopie bekommen. Auf der anderen Seite gibt es auch einzelne Praktiken, die gelingen und von denen man denkt: „So könnte es sein.“ Solche guten Momente kann man dann nehmen und wie auf einem Strahl vergrößern, um sich Utopien anzunähern.

Hilal Sezgin spricht auf dem taz lab um 17 Uhr, Stream 2

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