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Die Wolken der Sorge

Der wiederentdeckte Jugendroman „Müllerstraße – Jungens von heute“ von Ruth Rewald erzählt von den Mühen einer Kindheit in Armut

Von Marie-Sofia Trautmann

Es gibt zwei Arten von Kinderbüchern: Die, die für Kinder geschrieben sind (und gerade deshalb Erwachsenen oft viel Spaß machen) und die, die für Eltern geschrieben sind (und die völlig verfehlen, das auszudrücken, was man als kleiner Mensch wirklich in sich trägt). Die Wiederentdeckung des Jugendromans „Müllerstraße – Jungens von heute“ von Ruth Rewald gehört ohne jeden Zweifel zur ersten Kategorie. Im Erscheinungsjahr 1932 war es ein großer Erfolg, nun liegt das Werk erstmals in einer Neuausgabe wieder vor.

Die jüdische Autorin beschreibt den Wedding aus der Sicht von Kindern im Schulalter: Die Sommerferien liegen lang und stickig vor den Jungen, die viel mehr verstehen, als ihre Eltern vermuten. Als Kurt etwa erfährt, sein Onkel habe seine Arbeit verloren, lässt Rewald ihn denken: „Bis jetzt war seine Familie von diesem Unheil verschont geblieben. Er hatte das Gefühl, nun sei einer von ihnen von einer ansteckenden Krankheit befallen worden, und keiner könnte ihr mehr entrinnen.“ An Urlaub und Flucht aus der Großstadt ist in der angespannten finanziellen Lage nicht zu denken. Sehnlichst wünschen sich die Kinder Sommerferien auf dem Land, während ihre Eltern früh schlafen gehen, um „für eine Nacht dieses sorgenvolle Leben zu vergessen“.

Die Kinder sind auf sich gestellt, für Ablenkung und Spaß müssen sie selbst sorgen und schreiben ein Theaterstück, das sie am Ende der Sommerferien voller Stolz aufführen können. Mit großem Einfühlungsvermögen findet Rewald Worte für das, was Kinder empfinden: die Wichtigkeit von Freundschaft unter Gleichaltrigen, die Sorge, die eigenen Eltern zu enttäuschen, die Dankbarkeit für einen Lehrer, der Kindern viel zutraut und sie in ihrer Eigenständigkeit unterstützt.

Passagen, in denen Eltern ihr eigenes Kind als „unbrauchbaren Menschen“ bezeichnen und ihm die Schuld an ihrer Armut geben, verstören aus heutiger Sicht, die in Teilen politisch-didaktische Intention der Autorin irritiert mitunter. Rewald lässt die Kinder erklären, sie wollen „gemeinsam etwas erarbeiten“, so wie „die Großen, die zu Hunderten an einer Sache arbeiten und nachher steht da etwas: ein Haus, eine Maschine, ein Acker“. Fußballspielen sei zu nutzlos, stattdessen müsse etwas Sinnhaftes getan werden. „Jeder von uns tut etwas ganz Bestimmtes. Das Ganze ist dann für uns alle da.“ Das Theaterstück als arbeitsteiliges, für die Gemeinschaft sinnvolles Endprodukt.

Dass Rewald sich von einer Instrumentalisierung der Kinder- und Jugendliteratur für den proletarisch-revolutionären Kampf abgrenzen wollte, wie es im Nachwort heißt, ist an diesen Stellen anzuzweifeln. Dies mindert keinesfalls die Relevanz des Buchs als Dokument einer anderen Zeit, einer anderen Art von Kindheit. Rewald, 1906 geboren, begann nach abgebrochenem Jurastudium bei der Berliner Jugendwohlfahrt zu arbeiten und debütierte 1931 als Kinderbuchautorin mit den als Schullesestoff eingeordneten Erzählungen „Rudi und sein Radio“ und „Peter Meyer liest seine Geschichte vor“. Bis 1933 veröffentlichte sie zahlreiche Kinderkurzgeschichten.

Rewald musste als Jüdin und Linke 1933 emigrieren und wurde nach Jahren im Exil 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ihre einzige Tochter Anja starb dort anderthalb Jahre später. Die Wiederentdeckung der „Müllerstraße“ ist ein wertvoller Beitrag zur deutschen Kinderliteratur und lässt hoffen, dass die Suche nach vergessenen AutorInnen nicht endet.

Ruth Rewald: „Müllerstraße – Jungens von heute“. Verlag Walter Frey, Berlin 2023, 173 S.

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