: Terror aus dem Nicht-Ort
Mit ihrem düsteren Stück „Die Mitwisser“ gelingt es der Dramatikerin Enis Maci im Deutschen Theater in Göttingen, die Anti-Welt des Chatrooms auf die Bühne zu holen – als Ort der Radikalisierung
Von Jens Fischer
Was wissen wir heute nicht alles. Oder ahnen es. Oder könnten es vermuten. Aufgrund des pausenlosen Nachrichtenstroms, analog und digital. Verrennt sich da gerade ein Bewohner unseres Viertels in religiöse Radikalisierung, dessen Amoklaufpotenzial ja akut bekannt ist? Deutet das Verhalten der Kollegin das baldige Abstürzen in eine Depression an? Und ist es nicht offensichtlich, dass die politische Tatkraft derzeit mit dem Klimawandel in keinster Weise Schritt hält? Was tun wir in solchen Fällen?
Weitermachen und denken, wird schon nicht so schlimm werden, irgendwas spenden, Petitionen unterschreiben, Heizung runterdrehen oder einen Beitrag zur täglichen Empörung in den sozialen Medien leisten – als Illusion von politischem Engagement. Aus diesem Missverhältnis von Mitwisserschaft und tätiger Mitverantwortung generiert Enis Maci die Frage, welche Mitschuld die „Mitwisser“ tragen. So hat sie ihr 2018 am Schauspielhaus Wien uraufgeführtes Stück betitelt. Jetzt ist es am Deutschen Theater Göttingen zu sehen.
Als Spielorte vermerkt der Text den „Chat, der zwar keinen Ort hat, aber dennoch immer ganz in der Nähe ist. Klein- und großbürgerliche Wohnviertel, durch die eine Leere weht“ sowie die „Stadt, in der Kraftmeierei zärtlich verziehen wurde, wenn sie von der richtigen Seite kam“ und „diverse Kriegsschauplätze, wie eine Mundhöhle, in der Unerhörtes geformt wird. Und das Internet, immer wieder das Internet“. Zur Einstimmung lässt Regisseurin Selina Girschweiler das Publikum auf Computer-Displays im Bühnenraum starren.
Gezeigt werden nicht einzuordnende Katzenvideos, Talking Heads, Bilder ödester Provinz, rechtsradikale Fußballfans etc. Dann tänzeln fünf Schauspieler:innen leibhaftig herein und stellen die Protagonist:innen dreier Verbrechen vor, die Maci recherchiert und sprachelegant verlinkt hat. Große Teile ihrer Sprachkomposition sind sehr geschickt für fünf Stimmen eines Bürgerchores instrumentalisiert, aus dem sich Soli des Fragens, Verhörens, Analysierens, Gewichtens, Anklagens erheben.
Zuerst geht der dramatische Blick nach Florida, Port St. Lucie, 2011. Tyler Hadley will im Elternhaus eine Party schmeißen und hat sie in Whatsapp-Gruppen bereits groß angekündigt. Die Eltern verweigern aber die Zustimmung. Also erschlägt der 17-Jährige die beiden und feiert wahnwitzig euphorisch, aber doch irgendwie betroffen ein rauschend ausuferndes Fest mit über 100 Jugendlichen, während die Leichen im Nebenzimmer liegen.
Animiert wurde Tyler Hadley dazu nicht nur durch sozialen Druck und Selbstdarstellungswillen, auch konkret durch einige Einflüsterer. Ein Beziehungsgeflecht, das Maci als Nährboden der Gewalt kenntlich macht. Ist das „Ökosystem der Mitwisser“ also ebenso anzuklagen wie der Doppelmörder?
Das Ensemble stellt den Tathergang, Chatverläufe und gerichtliche Aussagen nach, spielt auch Party, indem es mit Plastikbechern herumwirft und in sie hineinkotzt. Als „Ökosystem“ kommen alle bald zu einem verständnisvollen Urteil. Wird Hadleys Heimatort doch als „Gruft der bald zu Begrabenden“ beschrieben, ein Rentner-Paradies: „Hier gibt es / keinen Strand / keine Einkaufszone / sieben Golfplätze / vierzehn Altersheime / sieben Bestattungsinstitute / zwei Bingohallen / und einen Boule-Club“.
Es galt also, dieser „Langeweile ein Schnippchen“ zu schlagen. Das wird als Mordmotiv behauptet. Einer tat es, alle andere redeten nur davon und posten nun ein Selfie von sich mit dem Killer. Schuldig? Tyler Hadley wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, sonst niemand auch nur angeklagt.
Wikipedianische Erklärungen für Erdbeben in der Türkei und Anmerkungen zu Flüchtenden im Mittelmeer ergeben eine mühsame Überleitung zu Nevin Yıldırım, die 2012 in einem Dorf zwischen Ankara und Antalya lebt. Nach einer grausamen Serie von Vergewaltigungen köpft sie ihren Peiniger und wirft das Haupt als Menetekel auf den Marktplatz. Für Yıldırım eine Frage der Ehre. Und der Anklage gegen ihre Umwelt. Denn viele haben von ihrer Not gewusst, eingeschritten ist keiner. Mitschuldig? Nicht in der Türkei. Ausschließlich Yıldırım wird verurteilt: zu lebenslanger Haft.
Im dritten Fall erwacht in Dinslaken der mittelmäßige Hauptschüler Nils Donath aus seinem Kifferleben zum fanatischen Salafisten, geht als IS-Bestie nach Syrien und macht sich eindeutig mitschuldig an Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Daheim hat sein privates Ökosystem die Fanatisierung, das Erwachen von Hass und flackernder Brutalität beobachtet, mehr nicht. Mitschuldig? Donath wurde 2021 wegen Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt …
In Göttingen sind die drei Episoden als poetisch-politische Lecture Performance zu erleben. Da Maci ihr Wissen aus dem Internet hat, nutzt sie die assoziative Dramaturgie des wuchernden Surfens auch für ihr Stück. Immer einen Klick entfernt sind neue Fakten, Meinungen, Geschichten und bildungsbürgerliche Verweise etwa auf Figuren der antiken Literatur. Oder Maci schreibt O-Töne aus einer über 30 Jahre alten WDR-Doku ab, die zeigt, wie Fußballfans zu Rassisten und Schlägern werden. In Oberhausen. Auch das begründet das „Ökosystem“ mit „der Langeweile ein Schnippchen schlagen“.
So spaßig ernst die immer wieder ironisch zuspitzende Inszenierung abläuft, so unverständlich bricht sie am Ende ein, wenn nur noch Chat-Kommentare aufgesagt werden und alles im Aufruf endet: „cmon man do some interesting funny things“. Ist das wirklich der Ansporn zu Missbrauch, Folter, Mord? Entscheidet das Individuum frei? Die offene Frage des Stücks beantwortet das Ensemble. Es spielt offensiv das Publikum an und will es wohl als global vernetzte Mitwisser ins Schuldbewusstsein für eine verrohende Welt holen. Was den Abend reizvoll ungemütlich macht.
„Die Mitwisser“: nächste Aufführungen Fr, 14. 4., und Mi, 3. 5., 20 Uhr, Deutsches Theater Göttingen, www.dt-goettingen.de
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