: Scheitern im Erfolg
THEATER Über hundert Jahre alt – und doch so frisch, als wär‘s ein Stück von heut: Am Samstagabend feierte Tschechows Klassiker „Die Möwe“ Premiere in Bremerhaven
von Andreas Schnell
Vielleicht ist es ja gerade weil die Möwe an sich in Bremerhaven durchaus heimisch ist – da denkt sich der Bremerhavener womöglich, dass er die sich nicht auch noch im Theater ansehen muss. Vielleicht ist das große Haus des Stadttheaters aber auch einfach ein bisschen groß für so eine Schauspielproduktion, die im deutlich größeren Bremen wahrscheinlich im deutlich kleineren Schauspielhaus liefe.
Ganz voll war es bei der Premiere nämlich nicht. Wobei Anton Tschechows „Möwe“ immerhin eines der meistgespielten Theaterstücke auf deutschen Bühnen ist. Die Inszenierung von Elina Finkel, die am Samstag in Bremerhaven Premiere hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass sich das der Qualität des Stücks verdankt – nicht etwa bloß Tschechows Klassikerstatus.
Natürlich mag eine Rolle gespielt haben, dass Finkel zugleich ihre neue Übersetzung der „Möwe“ zur Erstaufführung brachte. Staub ansetzen konnte die nun wirklich noch nicht. Aber es sind auch diese Figuren selbst, die in einem heißen Sommer auf dem Lande zusammentreffen, sich in Sehnsüchten, Eifersüchteleien, Sticheleien, Fehden und Tagträumen ergehen, die wenn schon nicht zeitlos, dann doch durchaus heutig wirken.
Im Zentrum des Stücks, das Tschechow selbst als Komödie bezeichnete, stehen zwei Paare: Der junge ambitionierte Schriftsteller Konstantin Trepljow und seine Geliebte Nina sowie Konstantins Mutter, die alternde Diva Irina Arkadina, und der erfolgreiche Schriftsteller Boris Trigorin. Konstantin möchte der Sommergesellschaft sein neues Theaterstück vorführen, mit dem er die alten Formen zerschmettern will. Nina spielt in dem Stück die Hauptrolle. Vor allem Irina Arkadina macht keinen Hehl daraus, was sie von Konstantins Bemühungen um neue Formen hält, der leidet unter der Zurückweisung der Mutter, Nina wiederum unter dem Misserfolg. Später wird sie Konstantin für Trigorin verlassen, beeindruckt von dessen Ruhm.
Zwei Jahre später treffen sie sich alle wieder. Konstantin ist ein erfolgreicher, aber einsamer Schriftsteller geworden, Trigorin hat zugunsten Irinas Nina verlassen, die zwar ihren Traum verwirklicht hat, Schauspielerin zu werden, aber durch die Provinz tingeln muss. Zu Konstantin zurück will sie dennoch nicht. Der erschießt sich schließlich.
Finkel entwickelt das Geschehen vor einem raffiniert schlichten Bühnenbild (Stephan Prattes), das im ersten Teil lediglich eine Landschaft buchstäblich entrollt und erst im zweiten Teil die arrivierte Gesellschaft in der Enge des bürgerlichen Salons verortet. Und sie findet einen wunderbaren Tschechow-Rhythmus, in langsamen Szenen mit vielen Pausen führt sie das Ensemble zu einem beeindruckenden Schauspielabend. So muss man Tschechow spielen: Mit Menschen aus Fleisch und Blut statt idealisierter Helden, Menschen mit Fehlern und Schwächen, die sympathisch sein können, aber auch ganz unangenehm egozentrisch, auch dann noch unglücklich sind, wenn sie bekommen, was sie wollen, weil es dann eben doch nicht ist, wie sie es sich ausgemalt haben.
Die Stärke des Bremerhavener Schauspiel-Ensembles erlaubt es Finkel, das Stück bis in die Nebenrollen eindrucksvoll zu besetzen. Hervorzuheben wären Meret Mundwiler als verbitternde Mascha und Kay Krause als Irinas Bruder Pjotr. Bei den Hauptrollen brilliert vor allem Sascha Maria Icks als alternde Diva, die noch in den privatesten Momenten das Schauspielern nicht lassen kann. Andreas Möckel fremdelte als Trigorin zunächst ein wenig mit seinem Text, fand dann aber zu einer überzeugenden Darstellung seiner von Selbstzweifeln geprägten Figur. Mira Tscherne gab das naive Mädchen vom Lande mit jugendlicher Frische, Sebastian Zumpe als Konstantin hätte vielleicht gelegentlich gezügelt werden müssen, aber so ein junger, zerrissener Künstler darf ja durchaus auch ein Heißsporn sein.
■ nächste Aufführungen: Donnerstag, 19.30 Uhr, Samstag, 26.5., Freitag, 1.6., Stadttheater Bremerhaven