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Die entfesselte Produktivkraft

Am Burgtheater versetzt Herbert Fritsch Ferdinand Raimunds zuckersüßes Wiener Volkstheater mit halluzinogenen Substanzen

Von Uwe Mattheiß

Zwei Premieren in nur wenigen Tagen Abstand brachten am Wiener Burgtheater die spannendste Woche seit Langem. „Kasimir und Karoline“ inszeniert von Mateja Kolešnik und Herbert Fritschs Arbeit an „Die gefesselte Phantasie“ von Ferdinand Raimund (1790–1836) bilden dabei zwei Pole dessen, was Thea­ter im reflektierten Gebrauch seiner Mittel heute noch leisten kann.

Kolešnik betrachtet Ödön von Horváths Oktoberfestwirren mit dem Röntgenblick eines Hyperrealismus, der in höchster Verfremdung gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was realistische Ästhetik als Vorurteil über die Wirklichkeit behauptet. Sie erzählt den Untergang von Kasimir und Karoline aus dem Geiste der Wiesn-Toilette, zwischen angekotzten Kacheln neben dem Waschbecken und dem kurzen Ritschratsch des Kondomautomaten vor hastigen Zweisamkeiten hinter der Kabinentür.

Der arbeitslose Chauffeur, das Angestelltenfräulein, tollpatschige Kleinkriminelle, Feierbiester und bürgerliche Zombies aus der „Mitte der Gesellschaft“, die an deren Rändern ihr Altherrenvergnügen suchen, sie sind nicht mehr das angekränkelte vormoderne Idyll, das Horváth noch zugrunde gehen sah, nur noch anonymes Material für den bewusstlosen Konsum. Den Takt der Aufführung bestimmt der Sprechfunk der Sanitäter:innen, die die Alko-Leichen abtransportieren.

Diesem analytischen Ansatz stellt Herbert Fritsch sein, wenn man so will, synthetisches Theater entgegen. Eins, das nicht mehr auf Erfahrung referiert, sondern welche erzeugt und das im genüsslichen Übermaß. Eines, das Sprache ins Tänzerische übersetzt und Bilder erzeugt, die die Wahrheit der Wirklichkeit überbieten. „Die gefesselte Phantasie“ gehört zu jenen zauberhaften Entrückungen, mit denen sich das volkstümliche Theater einst vor den Spitzeln der Metternich’schen Restauration in märchenhafte Regionen verdrückte.

Während man bei Johann Nestroy hinter vorgehaltener Hand den verdrucksten Revolutionär leicht erkennt, ist Ferdinand Raimund ein härterer Brocken. Fritschs Hochtemperaturtheater gelingt es, den Zuckerguss einzuschmelzen und darin einstige plebejische Lebenslust und die natürliche Missachtung weltlicher und geistlicher Autorität freizusetzen.

Flora ist ein mildmatriarchalisches Inselreich mit üppiger Vegetation, eher begütigt als beherrscht von Fürstin Hermione, die Maria Happel im streifenlosen Biene-Maja-Kostüm, Lockenwicklern und leichtem Vormittagsschwips ins Geschehen schickt. Die ersten Lacher wird sie nicht mehr los. Eine Art Drohnenharem umschwirrt sie, Höflinge und dichtende Gecken im 70er-Jahre-Outfit. Wahrscheinlich hat irgendwer LSD ins Trinkwasser geschüttet, die Entourage wird von Szene zu Szene bunter (Kostüme: Geraldine Arnold). Die Poesie ist hier Leitwährung. Es gibt einen talentlosen Hof­poeten (Gunther Eckes) mit Vokuhila und fetter Pilotenbrille, einen Chor mal aus Schäfchen, mal aus Löwen. Den Hofnarren stattet Markus Scheumann derart virtuos mit norddeutschen Idiom aus, dass selbst grimmige Be­rufs­wie­ne­r:in­nen ihn mit Beifall überschütten. Die Geschichte wäre schnell erzählt: Wann endlich bekommt Hermione ihren Toy Boy, den Hirten Amphio, der eigentlich ein dynastisch vorteilhafter Königssohn ist. Bless Amada jongliert als waidwunder Liebhaber genüsslich mit Gesten und Versatzstücken vom Altmeister formerly known as Prince bis zum queeren Rapper Little Nas X.

Werktreue dauert länger

Früher kostete im Wiener Volkstheater jede Watschn extra. Gags wurden im Akkord entlohnt

Die Sache dauert dann knapp zweieinhalb Stunden. Das hat etwas mit Werktreue zu tun. Zu Raimunds Zeiten hat man im Theater nicht alles aufgeschrieben, Ko­mö­di­an­t:in­nen wurden im Akkord entlohnt: einmal Fliegen, einmal ins Wasser fallen, jede Watschn, jede Fechtszene kostete extra. So segeln die bösen Zauberschwestern (Sarah Victoria Frick und Elisa Plüss) exzessiv über die Bühne: einmal so richtig gemein sein ohne psychologische Unterfütterung der „Figur“. In einer derben Vorstadtkneipe gabeln sie den Harfenisten und Heurigensänger Nachtigall auf. Sein derbes Trapsen soll den schon sicheren Liebeshandel auf Flora noch vereiteln. Sebastian Wendelin ist im hochklassigen Ensemble die Entdeckung des Abends, der von Hans Moser bis Konstantin Wecker so ziemlich alle österreichisch-süddeutschen Sprachmasken durch den Kakao zieht, schnell eins wird mit einem Theater, das Artistik gegen Figurenspiel, Musik gegen Psychologie setzt.

Da wäre noch die Phantasie, deren Gefangennahme durch die bösen Schwestern die ganze Meute männlicher Poeten vorübergehend in pubertäre Versagensängste stürzt. Mit Tim Werths ist sie, denkt man die antike Kosmologie zu Ende, genderfluid besetzt. Als grauer Solitär mit überlangem Schlips und Vertreteranzug entwickelt er eine surreale Choreografie irgendwo zwischen dem jungen David Byrne und Monty Python’s „Ministry of Silly Walks“. Die Götter haben es schließlich gerichtet, doch so viel Anarchie war selten bei Raimund. „Ja dürfens das?“, hätte sein Zeitgenosse, der einfältige Kaiser Ferdinand I. wohl gefragt. Das „goldene Wiener Herz“ wird’s verschmerzen.

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