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Ungemütliche Spiritualität

Unter den heutigen religiösen und esoterischen Angeboten gibt es viele unterschiedliche Strömungen. Wo steht darin eigentlich die Anthroposophie?

Von Wolfgang Müller

„Spiritualität“ kann Verschiedenes bedeuten. Da gibt es eine Richtung, die uns auf recht unkomplizierte Weise entgegenkommt. Wenn du dein Leben in etwas Größeres eingebettet siehst, so etwa ihre Aussage, dann wird dir dies ein gutes Gefühl geben, es wird dich entspannen und dein Leben angenehmer machen.

Eine andere Richtung will nicht gerade das Gegenteil – wer hätte nicht gern ein gutes Lebensgefühl? –, aber sie setzt doch ganz anders an. Ihre Grundaussage lautet etwa so: Ja, versuche unbedingt, die Welt tiefer als gewöhnlich zu verstehen, aber sei auch darauf gefasst, dass das dein Dasein nicht unbedingt einfacher machen wird. Es könnte sogar schwieriger werden, wenn die neuen Einsichten dein Leben in ein anderes Licht rücken und manches in Frage stellen.

Die Anthroposophie gehört in die zweite Kategorie. Ihr Begründer Rudolf Steiner (1861–1925) sprach sogar davon, die Menschen in dieser Bewegung würden „weniger leicht mit dem Leben fertig“.

Warum tut man sich das an? Letztlich wohl aus dem Impuls heraus, dass man der Wirklichkeit nicht mit einer rosa Brille begegnen, sondern sich ihr in ihrer ganzen Vielschichtigkeit stellen möchte. Und wohl auch in dem Vertrauen, dass so ein steiniger Weg – nicht bei jedem Schritt, aber doch insgesamt – ein erfüllteres Dasein ermöglicht und eher der Würde des Menschen entspricht. Jedenfalls ist dies das Selbstverständnis der Anthroposophie: Sie will nicht bloß wie ein geistiges Wellness-Programm die Seele des Menschen streicheln, sondern sie will ihn an Neues heranführen, auch an Ungewohntes oder an Einsichten, die einem sozusagen erst mal gegen den Strich gehen.

Steiner sprach manchmal von einer „Erkenntnisbewegung“. Ob das auch alle An­thro­po­so­ph:in­nen verstanden haben, ist eine andere Frage. Schon Steiner monierte, viele nähmen seine Vorträge wie eine „Sonntagnachmittagpredigt“ hin, heute würde man sagen: konsumierend. Er dagegen hielt es für entscheidend, selbst in die Aktivität zu gehen. Die Anthroposophie könne nur Anregungen bieten: „Dann muss der Mensch an sich selbst herantreten und muss mitarbeiten. Unbequem mag es sein, aber unendlich gesund ist es.“

An dieser Stelle wird auch eine Differenz zur heutigen kirchlichen Religiosität deutlich. In ihr steht nicht die Erkenntnisbemühung des Menschen, sondern sein „Glaube“ im Vordergrund, der Glaube an eine einmal gegebene Offenbarung. Diese Haltung sei auch für frühere Epochen angemessen gewesen, so Steiner, es sei aber kein Zufall, dass heute solche Glaubensappelle recht kraftlos verhallen. Denn das neuzeitliche Bewusstsein verlange etwas anderes. Es habe den berechtigten Impuls, nicht nur in der Naturerkenntnis, in Physik und Biologie, zu eigener Einsicht durchzudringen, sondern auch in tieferen Weltebenen.

Die Anthroposophie versteht sich als Anstoß und Anfang auf diesem sehr weiten Weg.

Damit stieß sie von Beginn an auf Misstrauen. Hauptvorwurf: Sie überschätze die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten. Und unbestreitbar ist dies ein schwieriges Terrain. Das bezeugen nicht zuletzt manche im anthroposophischen Milieu, die so wissend einherschreiten, als könne sich der liebe Gott noch etwas bei ihnen abgucken.

Steiner sah diese Risiken. Trotzdem hielt er den Grundansatz – dass der Mensch eigenständig und „mutvoll“ um Welterkenntnis ringt – für richtig und zeitgemäß. Nur müsse dies in eine allseitige menschliche Entwicklung eingebettet sein. Als „goldene Regel“ notierte er einmal: Jedem Schritt in der Erkenntnis müssten drei in der Charakterbildung entsprechen. Dazu gab er eine Vielzahl an Hinweisen und Übungen, etwa um eine größere Bewusstheit im Handeln und in der eigenen Lebensführung zu erreichen. Nur „eine einzige Gewohnheit abzulegen“ könne mehr bedeuten als große Begriffsbildungen.

Versuche unbedingt, die Welt tiefer als gewöhnlich zu verstehen, aber sei auch darauf gefasst, dass das dein Dasein nicht unbedingt einfacher machen wird

Wichtig sei, so formulierte es Steiner als junger Mann fast technisch, dass der Mensch „den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift“, dass also das menschliche Ich in eine bewusste, selbstgestaltete Entwicklung eintritt.

Später beleuchtete er in vielen Vorträgen, inwiefern dies von älteren spirituellen Ansätzen abweicht, die meist eine „Überwindung“ des Ich anstrebten. Die Anthroposophie setzt demgegenüber auf dessen Entfaltung und Reifung. Sie hält gerade das Individuelle, wenn es sich recht ins Ganze eingliedert, für weltbedeutend; denn, so Steiner, „wie auf jeden Menschen, so ist auch auf dich nicht nur im Allgemeinen gerechnet, sondern es ist auf dich gerechnet, insofern du ein ganz persönlicher, individueller Mensch bist!“

Am bekanntesten ist wohl seine Empfehlung zu einer täglichen Tagesrückschau, in der das eigene Leben, in einer Art Selbst­objektivierung, wie von außen betrachtet wird; und dies am besten im Krebsgang rücklaufend vom Abend bis zum Morgen, denn damit löse man sich behutsam aus den üblichen Zeitkategorien, die in tieferen Weltdimensionen ohnehin bedeutungslos sind. Diese „Seelenarbeit“ ist zweifellos nicht einfach. Und überhaupt, je gründlicher man sich ihr widme, so Steiner, „desto bescheidener wird man eben“.

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