: Jeder Zweite fliegt raus
AUS NIEDERSACHSEN HEIKE HAARHOFF
Hannover. Sie saßen sich schräg gegenüber auf der schwarzen Polstergarnitur, Brigitte Pothmer, die Gastgeberin, auf dem Sessel, Thea Dückert, die Geladene, auf dem Sofa. Es war wenige Tage, nachdem das Kanzlerwort von der Neuwahl ihre Partei in Schockstarre versetzt hatte. Jetzt aber kehrten Bewegung und Tatendrang zu den Grünen zurück – der Wahlkampf hatte begonnen, vor allem der parteiinterne um die Aufstellung der Landeslisten, von denen abhängt, wer welche Chancen hat, in den nächsten Bundestag einzuziehen. Die Grünen sind nur in einem ostdeutschen Landesparlament und in keiner westdeutschen Landesregierung vertreten. Das politische Überleben hängt jetzt vom Wahlausgang in Berlin ab. Das Spitzenergebnis der letzten Bundestagswahl von 8,6 Prozent werden sie nicht wieder erreichen. Deshalb ist das Platzgerangel heftig in der einstigen Rotationspartei.
Zeit, fand die niedersächsische Landesvorsitzende Pothmer, ihre Parteikollegin Dückert aus Oldenburg zu sich in die Landesgeschäftsstelle zu bitten. „Thea“, sagt Brigitte Pothmer sanft, „sollte es nicht aus den Medien erfahren.“ Erfahren, dass sie gehen soll. Erfahren, dass sie seit ihren Kompromissen zugunsten von Hartz IV für viele in der Partei ihre Glaubwürdigkeit verspielt hat. Erfahren, dass die Landeschefin Pothmer persönlich bei der Listenwahl Mitte Juli gegen sie antreten wird, um sie als grüne Spitzenkandidatin aus Niedersachsen für die Bundestagswahl zu verhindern. Sie, Thea Dückert, 55 Jahre, Ex-Landtagsabgeordnete, Ex-Fraktionschefin, Ex-Landesvorsitzende, derzeit stellvertretende Bundestagsfraktionschefin. Eben noch war sie ein geachtetes grünes Urgestein, jetzt stöhnen manche über „Thea, die Unvermeidliche“.
„Wir haben uns versichert, dass keine der anderen die Kandidatur übel nimmt“, sagt Brigitte Pothmer beiläufig. So als hänge von der Platzierung so viel ab wie von der SchirmherrInnenschaft beim grünen Hoffest. Pothmer sitzt wieder auf ihrem Sessel, kerzengerade, zuversichtlich, sie ist 50 Jahre alt. Sie vertritt weder eine andere Generation als ihre Konkurrentin noch eine andere Strömung innerhalb der Partei. Beide sind Befürworterinnen einer grünen Regierungsbeteiligung, ihre Reden von Gerechtigkeit, vom Zugang zu Bildung und Arbeit, sind austauschbar. Aber das spielt keine Rolle. Brigitte Pothmer hat nicht in Berlin die SPD-Politik mitgetragen. Brigitte Pothmer ist beliebt.
Neulich ist sie als Landesvorsitzende bestätigt worden. Sie hat die Delegierten hinter sich. Männliche Konkurrenten um den Spitzenplatz gibt es bei den Grünen nicht, das verbietet die Satzung. Alle ungeraden Listenplätze sind Frauen vorbehalten. In Niedersachsen haben sie dieses Jahr zudem unter Pothmers Führung beschlossen, dass von drei Listenplätzen einer mit einem parlamentarischen Neuzugang zu besetzen ist.
Oldenburg. Der Versuch, die eigene Haut zu retten, beginnt mit der Schaufensterdekoration. „Fördern statt Kontrolle“ müsse den Umgang mit Arbeitslosen bestimmen, erfahren Passanten dort auf Zetteln. Eine Forderung, die nach Opposition, nach Abgrenzung klingt. Eine Forderung, die mit „Thea Dückert, Mitglied des Bundestags“ unterzeichnet ist. So als habe sie, die grüne Hartz-IV-Verhandlungsführerin, nichts mit der rot-grünen Regierungspraxis zu tun. Drinnen in ihrem Büro geht Thea Dückert zum Angriff über. „Es ist albern, mich als Person für rot-grüne Politik haftbar zu machen.“ – „Vieles wurde vom Koalitionspartner ausgebremst.“ – „Meine Positionen sind unverändert, das kann man in Parteitagsbeschlüssen nachlesen.“ Ihre Mitarbeiterin bringt Tee. Sie hat schon Dienstschluss, ihre Kinder toben durchs Büro, sie wollen einkaufen mit der Mama, sie sind 9, 6 und 4 Jahre alt. Dückert erwähnt beiläufig: „Natürlich ist so eine Mitarbeiterstelle an das Mandat gebunden.“
Sie beherrscht jedes Mittel des Kampfes. Den Urlaub bei Freunden in Italien hat sie abgesagt, Podiumsdiskussionen und andere öffentliche Auftritte im Wahlkreis vorerst auch. „Ich muss viele interne Gespräche führen, bei der Liste geht es ja nicht bloß um Personen, sondern auch um regionalen Proporz.“ Sie könnte auch sagen: Mein persönlicher Wahlkampf ist mir wichtiger.
Da ist ja nicht nur Brigitte Pothmer. Die Bundestagsabgeordneten Silke Stokar und Marianne Tritz aus Niedersachsen wollen ihr Mandat verlängern, weitere Konkurrenz, aus den Reihen der Neuzugänge, ist denkbar. Rechnet man die Prognosen für das bundesweite grüne Wahlabschneiden auf Niedersachsen herunter, dürften aber nur zwei Frauen – über die Plätze eins und drei – relativ sicher ins Parlament kommen. Und die Alternative der Diplomvolkswirtin Dückert? Eine Rückkehr an die Universität Oldenburg. Auf eine unbefristete Stelle, mit 55 Jahren. Wer in Deutschland kann auf solche Sicherheiten bauen? Sie sagt: „Ich bin gern Politikerin.“
Aurich. Die Stimmenhändler lauern jetzt überall. Neulich beim Parteitag schlichen sie über die Flure, Thilo Hoppe hat sie beobachtet. Er sagt: „Es war eklig.“ Sie nehmen gezielt Abgeordnete zur Seite, sie bieten Deals an. Die sehen zum Beispiel so aus: Eine bevölkerungsreiche Region verfügt über reichlich Delegiertenstimmen, hat aber keinen präsentablen eigenen Kandidaten. Der Händler schnürt ein Paket: alle Stimmen seiner Region für einen Bewerber, der aussichtsreich ist, es aus eigener Kraft aber nicht schafft. Der Preis: Der künftige Bundestagsabgeordnete muss die Region, die ihn gepusht hat, unterstützen, egal was er von deren Personal und Politik hält. „Das geht doch nicht.“ Thilo Hoppe starrt ins Leere. Er ist 47 Jahre alt, er ist Diakon, als Abgeordneter kümmert er sich um Entwicklungspolitik, sein Wertesystem ist ein christlich-moralisches.
Vermeintliche Parteifreunde rufen ihn jetzt an und warnen: „Thilo, deine Orientierung ist nicht so deutlich.“ Er soll sagen, was er ist, Realo oder Linker, und sich entsprechend verhalten. Hoppe aber will nicht Politiker für Strömungen, sondern für Menschenrechte sein. Die grüne Debatte um einen „Linksruck“ hält ihn von seiner Arbeit ab. Er sperrt sich gegen alle Spielregeln, die die parteiinterne Kandidatenaufstellung bestimmen.
Schon vor drei Jahren landete er im Bundestag „eher zufällig“, wie er sagt. In der norddeutschen Weite nahe der Nordsee, die sein Zuhause ist, hatte es 2002 einen Kandidatennotstand gegeben. Hoppe, dem der Horizont seines Auricher Kreistags eigentlich weit genug war, sprang ein. Andererseits durfte er nicht zu offensichtlich wie ein Zählkandidat wirken. Also hielt er bei der Listenaufstellung eine Rede über Menschenrechte, über Ausbeutung und Kinderarmut, über Themen, die ihn beschäftigen, seit er als junger Mann durch Lateinamerika tourte, „unverkrampft, ich hatte ja nichts zu verlieren“. Die Delegierten wählten ihn auf Platz 4. Er weiß inzwischen, dass so etwas die Ausnahme ist in der Politik. Aber er weiß auch, dass er vier Kinder hat und dass ein Abgeordneter erst nach zwei Legislaturperioden einen Rentenanspruch erwirbt. Er sagt: „Ich bin nicht bereit, mich zu opfern.“ Unbeschwertheit? Leichtigkeit? Alles weg.
Lüneburg. Trittin müsste man heißen, und die Sache wäre geritzt. Der Bundesumweltminister, 50, gehört zu den wenigen Promis der Partei. Es kann noch so viel Gerede geben um Generationenwechsel und programmatische Erneuerung, Jürgen Trittin gilt als unverzichtbar, er ist „gesetzt“, wie es bei den Grünen heißt. Es bedeutet: Trittin wird männlicher Spitzenkandidat für Niedersachsen. Platz 2 der Landesliste ist für den Göttinger reserviert, egal was er sich herausnimmt, egal wie sehr er sich anmerken lässt, dass ihm die Aussicht auf die Opposition stinkt. Man kann den Minister beobachten, wie er dieser Tage übers Land reist und seinen Frust über das wohl baldige Ende seiner Amtszeit an der Basis auslässt. Es reichen ein paar Fragen zum Atomausstieg, und Trittin rastet aus. In Lüneburg bei einer Veranstaltung brüllt er seine potenziellen Wähler nieder, sie „nervten“, und er sei unsicher, ob sie „in der Lage“ seien, die Erfolge seiner Energiepolitik „intellektuell nachzuvollziehen“. Es hat keine Folgen. Niemand wagt ihn herauszufordern. Stattdessen schlucken die grünen Männer, dass ihnen allen nur ein einziger aussichtsreicher Platz bleibt, um den sie konkurrieren: der vierte.
Berlin. Stephan Schilling kommt ins Café und sieht aus wie so viele Studenten der Volkswirtschaft: schwarzer Pulli, schwarze Jeans, die Haare zusammengebunden. Dann macht er den Mund auf, und heraus kommen druckreife Sätze. Bürgerversicherung, Zukunft der Bildung, soziale Gerechtigkeit. Er ist erst 22 Jahre alt. Er streift die Themen, über die jetzt alle Grünen reden, aber etwas ist anders bei ihm. Er ist nicht interessant, weil er jung ist, sondern obwohl er so jung ist. Wenn er redet, dann klingt das nicht nach schwermütiger, linker Utopie, sondern so, als könne es Spaß machen, dieses Land zu verändern. Er macht das unkompliziert, er macht das witzig, er macht das professionell. Am Ende verlangt er, alle wörtlichen Zitate noch einmal vorgelegt zu bekommen.
Dass es ausgerechnet Thilo Hoppe sein müsse, gegen den er antrete, Hoppe, mit dem er Papiere zur Steuerpolitik verfasst habe, das sei unschön, sagt Schilling. Trotzdem wird er ihn von der politischen Bühne fegen. Wenn nicht dieses Mal, dann in vier Jahren. Schilling ist Sprecher der Grünen Jugend. Er gilt als Talent. Er weiß, wie man Fäden zieht. Sogar wie man putscht. Im Streit um die Gesundheitsreform wäre es ihm fast gelungen. Da ließ er vor dem Bundesparteitag das Konzept der Grünen Jugend für eine Bürgerversicherung drucken – als ganzseitigen Artikel in der Frankfurter Rundschau. Die Parteispitze tobte.
Stephan Schilling grinst. Er weiß, dass die Älteren sich noch so abmühen können, am Ende ist Politik auch eine Frage des längeren Atems. „Wir Jüngeren haben das Selbstvertrauen, dass wir zur Zukunft der Partei gehören.“